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John Campbell, Afghanistan-Kommandant.

Foto: Reuters/Roberts

Kunduz – Angesichts der Kämpfe in Kunduz haben nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen sämtliche humanitären Helfer die nordafghanische Stadt verlassen. Es gebe "keine humanitären Organisationen in Kunduz mehr", teilte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) am Dienstag im schweizerischen Genf mit. Augenzeugen berichteten indes von vielen getöteten Zivilisten.

In Kunduz seien "die meisten Märkte geschlossen", teilte OCHA weiter mit. Tausende Menschen seien in den vergangenen Tagen vor der Gewalt geflohen. "Die humanitären Bedürfnisse in Kunduz sind weitgehend unbekannt, weil es keinen Zugang gibt." In der Region versuchten Hilfsorganisationen, Lebensmittel und andere Unterstützung mittels "sporadischer" Aktionen zu verteilen.

Lage immer kritischer

Die Lage für Zivilisten in der umkämpften Stadt wird indes laut Augenzeugenberichten immer kritischer. Demnach wurden viele verletzt oder getötet, es gebe kaum noch Nahrungsmittel oder medizinische Hilfe. Tausende Familien sind nach UN-Angaben in andere Landesteile geflüchtet. Der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagten einige Kunduz-Flüchtlinge, sie wollten Afghanistan nun in Richtung Europa verlassen.

Taliban-Kämpfer hatten vergangene Woche weite Teile der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Regierungstruppen eroberten bis Montag das Stadtzentrum der Großstadt Kunduz zurück. Doch wie Bewohner berichteten, verschanzen sich noch immer Extremisten in Häusern. Bei den Gefechten sei keine Rücksicht auf die Bevölkerung genommen worden, sagte Ahmed Sayed Saeedi der dpa. "Wenn ein Taliban oder ein Regierungstreuer getötet wird, sind sie Märtyrer, aber wenn Zivilisten sterben, nennen sie uns Aas."

Stadt verlassen

Die meisten Opfer der Gefechte seien Zivilisten, sagte auch Abdul Rahim. "Wenn sie nicht im Kreuzfeuer sterben, dann verhungern sie. Es gibt dort nichts mehr, die ganze Stadt ist verlassen", sagte Rahim in Kabul. Er hatte sich nach Kunduz durchgeschlagen, um einen Verwandten zu retten, der Krankenpfleger ist.

Dieser sei bei dem US-Luftangriff auf das Krankenhaus der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" verletzt worden. "Als ich zu dem Krankenhaus kam, sah ich zwei große Zimmer mit Toten und Verletzten." Der Luftangriff mit 22 Toten erfolgte nach den Worten des US-Afghanistan-Kommandanten John Campbell auf Bitten der afghanischen Armee. Das Verteidigungsministerium in Kabul hatte am Wochenende behauptet, radikal-islamische Taliban hätten die Klinik als "Schutzschild" missbraucht. Sowohl die Taliban als auch die "Ärzte ohne Grenzen" dementierten dies. Campbell bezeichnete den Angriff auf die Klinik als Irrtum, betonte aber, die Entscheidung zum Angriff sei in der US-Befehlskette gefallen. "Ärzte ohne Grenzen" sprach von einem Kriegsverbrechen und forderte eine unabhängige internationale Untersuchung des Vorfalls.

Neue Taktik

Die Islamisten reagieren indes auf die Gegenoffensive der afghanischen Sicherheitskräfte mit einer neuen Taktik: Statt Soldaten und Polizisten in direkte Feuergefechte zu verwickeln, verlegen sich die Islamisten nach Angaben der Behörden zunehmend auf blitzartige Überfälle. Sie fahren mit Motorrädern an Kontrollposten vor, geben Schüsse auf die Sicherheitskräfte ab und tauchen dann sofort wieder in Wohnvierteln unter.

"Das ist ein neues Vorgehen der Taliban", sagte der kommissarische Gouverneur Hamdullah Danishi am Dienstag. "Sie wollen für Angst unter den Einwohnern sorgen, damit sie nicht zum Alltag zurückkehren können." (red, APA, 6.10.2015)