Wenn Charlie Ewing sein Vieh zusammentreiben will, dann steigt er in den eigenen Hubschrauber. Damit fliegt er über die weitläufigen Weiden und entlang der Bergrücken auf seiner Farm im Matukituki-Tal, nahe dem See Wakana, ganz im Süden von Neuseelands Südinsel. Die Landschaft ist auf atemberaubende Weise urtümlich, weitgehend unbesiedelt, abwechselnd schroff und üppig. Und nach einem außergewöhnlich heißen Sommer stellenweise sehr trocken.

Neben Rindern und Schafen züchtet Ewing auch Hirsche. "Die Geschichte der Hirsche in Neuseeland ist eine typische Geschichte aus der Neuen Welt – und eng verbunden mit Hubschraubern", sagt Ewing und treibt einige der versprengten Tiere zurück zur Herde, indem er über sie hinwegfliegt.

Für Nichtneuseeländer mag der Anblick einer Herde mit mehr als hundert Hirschen ungewohnt wirken.
Foto: Georges Desrues

Ideales Klima

Bekannt ist Neuseeland in Europa vor allem für seine Schafzucht, selbst wenn zahlreiche Farmer in den letzten Jahren auf Rinder umgestellt haben, um die starke und stetig wachsende Nachfrage nach Milch und Milchprodukten aus China zu stillen. Was weniger bekannt ist: Auch die Hirschzucht ist ein bedeutender Wirtschaftszweig in diesem Land. Das war freilich nicht immer so, denn genau wie die Schafe und die Rinder und alle anderen Säugetiere, die den Inselstaat heute bevölkern, wurden auch die Hirsche von europäischen Siedlern erst im 19. Jahrhundert eingeführt. "Die Siedler stammen zwar in der Mehrheit aus armen Verhältnissen", erzählt der Farmer Ewing, nachdem er den Hubschrauber wieder gelandet hat, "doch in ihrer neuen Heimat wollten auch sie ein Leben führen, wie sie es von der Upperclass in England und Schottland kannten – also Sport treiben und jagen." So brachten sie ein paar Rothirsche von den Britischen Inseln mit, die sie in den Weiten des Landes am anderen Ende der Welt aussetzten. Das Klima war ideal, Fressen gab es für die Tiere mehr als genug, natürliche Feinde indessen überhaupt keine. Folglich vermehrten sie sich rapide – und wurden bald darauf zur Plage. Wie Ewing schon sagte: eine typische Neue-Welt-Geschichte.

Bereits in den ersten Jahren des frühen 20. Jahrhunderts begannen einige Farmer sich Sorgen zu machen wegen der ständig wachsenden Rudel an Hirschen, die ihrem Vieh das Gras wegfraßen. Und da sie dabei auch Pflanzen vernichteten, die den Erdboden vor Erosion schützten, kam es immer häufiger zu Überflutungen und zu Erdrutschen. "Die Regierung überlegte, Gift einzusetzen, stellte dann aber lieber Männer an, die beauftragt waren, die Hirsche zu keulen. Bezahlt wurden sie nach Anzahl der Häute, die sie zurückbrachten", erzählt Ewing. Die Kadaver der Tiere indessen ließen sie in der Regel einfach liegen. Bald darauf erkannte man, dass es eine unglaubliche Verschwendung war, dieses hochwertige Fleisch einfach verrotten zu lassen. Also bediente man sich der Hubschrauber, um die Hirsche zu schießen.

Der Kampf um das Fleisch

Aus der Jagd auf die Tiere und dem Verkauf ihres Fleisches vornehmlich nach Europa und Asien wurde plötzlich ein boomender Wirtschaftszweig. "Das Geschäft florierte, legale und illegale Hubschrauberbetreiber lieferten sich ein Wettrennen, um möglichst viel Fleisch zu ergattern", erzählt Ewing.

Bis zu dem Tag, als einige gewiefte neuseeländische Farmer beschlossen, dass es so nicht weitergehen könne, die Zustände waren zu chaotisch, der Aufwand viel zu groß im Vergleich zum Gewinn. Sie erkannten, dass sie bessere Geschäfte machen könnten, wenn sie die Tiere züchten würden und ihr Fleisch professionell vermarkten. Da der Regierung die Wildwestmethoden der Hubschrauberjäger schon lange ein Dorn im Auge waren, gab auch sie ihren Segen dafür. Es war der Beginn der neuseeländischen Hirschzuchtwirtschaft – und, wie manche es sehen, auch die weltweit erste Domestizierung eines Wildtieres nach vielen Jahrhunderten. "Zu Beginn der 1970er-Jahre wurde die Hirschzucht offiziell genehmigt", so Ewing, "nun brauchte man neuerlich die Helikopter, um die Tiere mit Netzen einzufangen und den Zuchtbetrieb aufzunehmen", was freilich auch kein leichtes Unterfangen gewesen sei.

Eine Million Hirsche

Inzwischen sind die Hirsche also domestiziert, eine Million Stück davon in Neuseeland, aufgeteilt auf 2.000 Farmen. Damit ist das Land der weltgrößte Produzent von Hirschfleisch. Auf Charlie Ewings Farm haben sich die gerade noch versprengten Hirsche inzwischen unter die Herde gemischt. Für einen Nichtneuseeländer ist so eine Herde mit mehreren Hundert Tieren ein ungewohnter Anblick. Scheu sind sie jedenfalls nach wie vor, nähern kann man sich ihnen kaum. "Vermutlich wird es noch ein paar Jahrhunderte dauern, bis sie sich an die Menschen gewöhnt haben und wie Kühe stehen bleiben, wenn man auf sie zukommt", schätzt Ewing.

Dass die Tiere ein gutes und artgerechtes Leben führen, steht außer Zweifel: das ganze Jahr in der Freien Natur, in einer nahezu unberührten Landschaft bei vorwiegend gemäßigten Temperaturen und mit genügend Fressen. Zugefüttert wird im Sommer und Winter, wenn Gras und Futterpflanzen rar sind, dann meistens Getreide, Heu und Silage sowie speziell für sie angebauter Klee, Rüben und Kohl. Hormone oder sonstige Wachstumsbeschleuniger sind verboten.

Auffällig ist allerdings, dass die Hirsche keine Geweihe tragen. Diese würden den Tieren abgenommen, erklärt der Farmer, zum einen um Verletzungen zu vermeiden, zum anderen um sie zu zermahlen und in Pulverform nach Ostasien zu verkaufen, wo sie beispielsweise in der traditionellen chinesischen Medizin schon seit Jahrhunderten zur Anwendung kommen. "Dazu ist allerdings zu sagen, dass Geweihe nicht mit Hörnern etwa von Rindern zu vergleichen sind", wirft Charlies Tochter Pip ein, "während die Rinder ihre Hörner das ganze Leben behalten, werfen die Hirsche ihre Geweihe jedes Jahr ab, damit ein neues nachwachsen kann."

Purer Geschmack: In Neuseeland serviert man Wild am liebsten ohne dicke Saucen, stattdessen gegrillt mit regionalem Gemüse und Kräutern.
Foto: Georges Desrues

Qualitätssicherung

Sieht man also vom optischen Detail der fehlende Geweihe ab, so besteht nur ein einziger wesentlicher Unterschied zu den Artgenossen, die in Europa in Gehegen gehalten werden oder aber in freier Wildbahn leben, wo sie ja während der Wintermonate ebenfalls gefüttert werden: nämlich in der Art ihres Todes. Während Hirsche in Europa geschossen werden, werden sie in Neuseeland geschlachtet. "Dazu treiben wir sie zusammen und transportieren sie per Lkw zu spezialisierten Schlachthöfen, in denen einzig und allein Hirsche geschlachtet werden", sagt Pip Ewing. Ein solcher Schlachthof ist der Mountain River Venison Processors in der Ortschaft Rakaia am gleichnamigen Fluss, etwa drei Autostunden von der Farm der Ewings gelegen. Dort verbringen die Tiere ein paar Tage, um sich vom Stress des Transports zu erholen, bevor sie geschlachtet werden.

"Gegenüber dem Schießen hat das Schlachten den Vorteil, dass die Qualität immer gleich bleibt", erzählt John Sadler, einer der Manager des Betriebs, "ein Schuss mit einem Jagdgewehr kann das Tier schnell einmal an der falschen Stelle treffen, wodurch die Qualität des Fleisches beeinträchtigt würde." Natürlich ist auch ein Schlachthof für Hirsche alles andere als ein gewohnter Anblick. In einer Halle hängen aufgefädelt die Körper der Tiere und werden von mehreren Dutzend Mitarbeitern mit gekonnten Handgriffen in Windeseile zerlegt. "Das ideale Schlachtgewicht erreichen die Tiere mit circa eineinhalb Jahren, wenn sie zwischen 50 und 70 Kilogramm wiegen", so Sadler weiter, "der Fleischanteil beträgt 75 Prozent des Gesamtgewichts. Und somit mehr als bei Rind und Schaf."

Export nach Europa

Am Schlachthof wird das dunkle, fettarme Fleisch der Tiere nach Schnitt sortiert und luftdicht verpackt. Ein Stück gleicht dem anderen. Danach geht es mehrheitlich in den Export – vor allem nach Europa. Das geschehe hauptsächlich per Frachtschiff, brauche also um die sechs Wochen, in denen das Fleisch wunderbar nachreifen könne, sagt Sadler.

Ein kleiner Teil davon verbleibt in Neuseeland, und wird dort zumeist auf dem Barbecue gegrillt. "Das Barbecue gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von uns Kiwis", sagt der erfahrene Koch Graham Brown, der selbst Hirsche züchtet und ein Spezialist ist, was die Zubereitung ihres Fleisches betrifft, "die meisten Cuts eignen sich perfekt zum Grillen, wie etwa das Filet oder das Rückenfilet, aber auch die Keule und sogar die Spareribs." Richtig gebraten, also bei hoher Temperatur und keinesfalls durchgegart, ist das Fleisch tatsächlich außergewöhnlich in Geschmack und Konsistenz und von heimischem Wild kaum zu unterscheiden – außer dass es vielleicht etwas milder schmeckt und weniger typisches Wildaroma enthält.

Das liege, laut Graham Brown, vor allem an der Ernährung, die doch etwas anders ausfalle als bei Wildtieren in freier Natur. Abgesehen vom Barbecue würde Hirschfleisch in Neuseeland eher selten gegessen, bedauert er, die Kiwis seien eben Gewohnheitsmenschen und bevorzugten Lamm und Rind, das hierzulande ebenfalls von herausragender Qualität sei und schon sehr lange auf dem Speiseplan der Neuseeländer stehe.

Wild in der Spitzengastronomie

In der lokalen Spitzengastronomie indessen findet das delikate Fleisch sehr wohl seinen Platz, so zum Beispiel im angesagten Restaurant Meredith's in Auckland, der größten Stadt des Landes. Hier, an der nördlichsten Spitze der Nordinsel – und damit am anderen Ende Neuseelands – arbeitet der aus Samoa stammende Besitzer und Küchenchef Michael Meredith, dem internationalen Trend folgend, vorwiegend mit lokalen Produkten. Hirschfleisch serviert er in verschiedenen Varianten, etwa als Tatar oder nur kurz gebraten und garniert mit lokalen Gemüsen und Blüten. "In der klassischen europäischen Küche wird Wildfleisch nur allzu häufig in dicken Saucen begraben und mit Preiselbeeren serviert", sagt Meredith, der viele Lehrjahre im Ausland verbracht hat, "dadurch hat das Fleisch bei jüngeren Leuten nicht den allzu besten Ruf.

Hier aber denken wir, man sollte seinen Geschmack eher hervorheben, als ihn mit Saucen zu übertünchen." Größtes Problem, so der Koch, sei der hohe Preis des Fleisches. Das halte viele Leute davon ab, es auszuprobieren. "Zudem findet man es nur selten in Metzgereien oder Supermärkten", fügt er an, was eben auch daran liege, dass die neuseeländische Landwirtschaft sehr stark exportorientiert sei. Auch das ist ein Schicksal, das das Land mit zahlreichen anderen Ländern in der Neuen Welt teilt.

Hirschfleisch aus Neuseeland landet in der heimischen Gastronomie.
Foto: Georges Desrues

Der Löwenanteil landet in der Gastronomie

In Europa hingegen findet man zwar Lammfleisch aus Neuseeland ziemlich problemlos im Supermarkt, Hirschfleisch von dort allerdings gleichfalls eher selten. Das liegt daran, dass der Löwenanteil in der Gastronomie landet. Dort schätzt man das professionell verarbeitete Produkt, das fein säuberlich parierte Fleisch, die genau kalibrierten Teile, in die es zerlegt wurde. Im Vergleich zu heimischem Wild ist der Hirsch aus Neuseeland ein Convenience-Produkt, das man auch jederzeit nachbestellen kann.

Dass man seine Herkunft in vielen Restaurants in Europa gerne verschweigt, liegt zweifellos daran, dass man dem Gast nicht das romantische Bild des vom Waidmann erlegten Hirsches aus heimischen Wäldern nehmen möchte, und an dem internationalen Trend hin zu lokalen Produkten, die zumeist als umweltfreundlicher, besser und frischer gelten als weitgereiste Importware. Nur dass die Frische beim Hirschfleisch bekanntlich kaum eine Rolle spielt, zumal ihm die knapp sechs Wochen Überfahrt nach Europa eigentlich sogar guttun, weil das Fleisch so perfekt nachreifen kann. Und es liegt wohl auch daran, dass es in Europa nicht viel Fleisch von Tieren in derart großen Mengen gibt, die so artgerecht und umweltfreundlich gehalten wurden, wie die Hirsche am anderen Ende der Welt. (Georges Desrues, RONDO, 24.10.2015)