Kabul/Berlin – Nach dem fatalen Luftangriff auf ihre Klinik zieht sich die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) weitgehend aus der umkämpften afghanischen Stadt Kunduz zurück. Die Mitarbeiter hätten das Spital verlassen, erklärte Sprecherin Kate Stegemann am Sonntag. Bei dem Beschuss, offenbar durch US-Kampfjets, waren am Samstag 22 Menschen getötet worden: zwölf MSF-Mitarbeiter und zehn Patienten, darunter drei Kinder. "Auf der Intensivstation verbrannten sechs Patienten", berichtete der Krankenpfleger Lajos Zoltan Jecs schockiert. "Es war absolut fürchterlich."
Die Attacke auf das Krankenhaus hatte weltweit für Entsetzen gesorgt. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, sprach von einem möglichen Kriegsverbrechen, falls die Klinik absichtlich attackiert wurde. Der Vorfall sei "tragisch, unentschuldbar und womöglich sogar kriminell". US-Präsident Barack Obama nannte den Vorfall eine "Tragödie" und versprach volle Aufklärung. Das US-Verteidigungsministerium habe eine Untersuchung eingeleitet.
Ortsdaten waren bekannt
Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen sei die Klinik mehr als eine Stunde lang, von 2.08 Uhr bis 3.15 Uhr in der Nacht zum Samstag, immer wieder bombardiert worden – und das, obwohl man erst am 29. September der Nato, dem US-Militär und Kabul die genauen Ortsdaten mitgeteilt hatte. Selbst als man das US-Militär nach den ersten Treffern informierte, sei der Beschuss noch eine halbe Stunde weitergegangen.
Afghanische Regierungstruppen versuchen seit einer Woche, die 300.000-Einwohner-Stadt Kunduz und ihre Umgebung im Norden des Landes von den Taliban zurückzuerobern. Dabei werden sie auch von den USA unterstützt. US-Militärsprecher Brian Tribus räumte ein, ein US-Luftangriff am Samstag "könnte zu Kollateralschaden in einer nahen medizinischen Einrichtung geführt haben". Der Schlag habe "einzelnen Gegnern" gegolten, die auf US-Militärs gefeuert hätten. Krankenhäuser stehen laut dem humanitären Völkerrecht im Krieg unter besonderem Schutz.
"Menschen als Schutzschild" benutzt
Dagegen erklärte das Kabuler Innenministerium, etwa zehn bis 15 Taliban wären in die Klinik eingedrungen und hätten "die Gebäude und die Menschen als Schutzschild" benutzt, während sie auf Sicherheitskräfte gefeuert hätten. Dieser Behauptung widersprachen Ärzte ohne Grenzen: Niemand außer Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen hätte sich in der Klinik aufgehalten. Auch Taliban-Sprecher Sabiullah Mujahid erklärte: "Keiner unserer Kämpfer war zum Zeitpunkt des Angriffs ein Patient der Klinik."
Die Behauptung der afghanischen Regierung, dass sich angeblich Taliban direkt im Gebäude befunden hätten, ist brisant: Deutet dies doch an, dass es sich doch um einen gezielten Angriff handeln könnte. Dies legen auch Schilderungen von MSF nahe. "Die Bomben schlugen ein, und wir hörten das Flugzeug kreisen", erzählte Heman Nagarathnam, MSF-Programmleiter für Nordafghanistan. "Dann gab es eine Pause und weitere Bomben. Die Menschen, die konnten, hatten sich in zwei Bunkern in Sicherheit gebracht. Jene Patienten, die nicht in der Lage waren, sich zu retten, verbrannten in ihren Betten."
Auch Taliban behandelt
Die Klinik war weithin bekannt – und den afghanischen Sicherheitskräften offenbar schon länger ein Dorn im Auge. Gemäß humanitärem Völkerrecht behandeln Ärzte ohne Grenzen Verletzte beider Kriegsparteien, also auch Taliban, sofern diese ihre Waffen ablegen. Vor einiger Zeit hatten afghanische Sicherheitskräfte laut Medienberichten die Klinik durchsucht, obwohl dies gegen internationales Recht verstieß.
Ärzte ohne Grenzen ist eine der angesehensten Hilfsorganisationen weltweit. Seit 1971 leisten ihre Mitarbeiter Nothilfe in Krisen- und Kriegsgebieten, nicht selten riskieren sie dabei ihr Leben. Zum Zeitpunkt des Angriffs hielten sich fast 200 Menschen in der Klinik auf, davon waren etwa 80 MSF-Mitarbeiter.
Die Lage in Kunduz blieb derweil unübersichtlich. Die Regierung in Kabul behauptete erneut, man habe die Stadt wieder unter Kontrolle. Dagegen zitierten Medien Bewohner, die von anhaltenden Gefechten berichteten. Nach Schätzungen lokaler Behörden wurden seit Beginn der Kämpfe 70 Menschen getötet und 500 verletzt. Bereits am Donnerstag hatte die vom Westen gestützte Regierung den Sieg über die Militanten verkündet, wurde aber wenig später von der Realität Lügen gestraft. (Christine Möllhoff, 4.10.2015)