Getrennt ein Leben lang: Shim Gu-seob, der als 14-jähriger Nordkoreaner nach Seoul geschickt worden war, hat seine Familie auf offiziellem Wege niemals wiedergesehen.

Malte E. Kollenberg

Allein den Bruder traf er einmal "illegal". Seither ist dieser in einem nordkoreanischen Arbeitslager inhaftiert.

Malte E. Kollenberg

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Ein der Familienzusammenführungen im nordkoreanischen Diamantengebirge im Februar 2014.

Foto: AP/Lee Ji-eun

Wenn die Südkoreaner während der Chuseok-Feiertage kollektiv ausziehen, um ihre Ahnen am Familiengrab zu ehren, schließt sich Shim Gu-seob für gewöhnlich in seine Apartmentwohnung ein, schaltet den Fernseher aus und zieht die Vorhänge zu. Diesen 27. September jedoch ist der 81-Jährige mit seinem Sohn gen Norden gefahren, stets entlang des Han-Flusses, bis dieser von Stacheldraht und Schießständen eingezäunt wird, die Straßen immer schmaler werden und schließlich vorm Niemandsland der Demarkationslinie abrupt enden. Dort hat Shim seinen Blick auf die ockerfarbene Ödnis am Horizont gerichtet, sich dreimal tief bis zum Boden verbeugt und seiner verstorbenen Eltern gedacht. Heimat, das ist für den Koreaner mit den graumelierten Haaren nur mehr eine vage Erinnerung.

Etwa an die verschneiten Weihnachtsabende, die der Bub mit seiner Mutter in der Kirche von Hamheung verbracht hat, einer Küstenstadt im Nordosten der koreanischen Halbinsel. Mit 14 Jahren wurde er dann von den Eltern in Seoul zur Schule geschickt, wenige Monate bevor ein fürchterlicher Bürgerkrieg ausbrach, der nicht nur vier Millionen Menschen das Leben kosten, sondern auch hunderttausende Familien trennen sollte. "Als ich realisiert habe, dass wir uns nie mehr wiedersehen können, habe ich tagelang nur geweint", erinnert sich Shim.

Brutales Auswahlverfahren

Im Gewimmel der Zehn-Millionen-Metropole Seoul lässt sich nur allzu leicht vergessen, dass 50 Kilometern Luftlinie entfernt noch immer ein kalter Krieg ausgetragen wird. Erst im August wurden erneut Warnschüsse über die Grenze gefeuert. Es waren die gravierendsten innerkoreanischen Spannungen seit mehr als fünf Jahren, nach deren Ende jedoch das Kim-Regime in Aussicht stellte, worauf viele südkoreanische Senioren so verzweifelt hoffen: Am 20. Oktober sollen erstmals wieder die seltenen Familienzusammenführungen aufgenommen werden.

Gut 20 davon wurden seit der koreanischen Annäherung um die Jahrtausendwende abgehalten, die letzten vor anderthalb Jahren. Allein das Auswahlverfahren ist brutal: Ein willkürlicher Computer-Algorithmus wählt aus mehr als 66.000 Bewerbern 500 Familienmitglieder aus, die wiederum je nach körperlicher Gesundheit und Alter auf 250 reduziert werden. Nachdem die nordkoreanischen Behörden die Verwandten jenseits der Grenze ausfindig machen konnten, werden nur mehr 100 Familien übrig bleiben.

Drei Tage lang werden diese in ein Ferienresort im nordkoreanischen Diamantengebirge geladen, wo sie in einem Festsaal bei plärrender Volksmusik zwischen Sicherheitsbeamten und Fernsehteams so etwas wie Intimität herstellen müssen. Ein Gespräch unter vier Augen ist nur für zwei Stunden erlaubt – und die müssen dann für ein Leben reichen. Wer nämlich einmal für eine Familienzusammenführung ausgewählt wurde, fällt unwiderruflich aus dem Lotteriesystem heraus.

Dabei versterben jedes Jahr nach Angaben des Roten Kreuz rund 3.600 Angehörige – also zehn Südkoreaner pro Tag, die nie ihre Heimat betreten konnten. In Nordkorea, wo die Menschen laut Amnesty International im Schnitt zwölf Jahre früher als jene im Süden sterben, dürften nur mehr wenige tausend Angehörige am Leben sein.

Was wäre, wenn?

Shim Gu-seob hat von seiner Familie immerhin noch ein Foto, das er wie einen Talisman bei sich führt: Es zeigt die Mutter im traditionell koreanischen Gewand, die ernst dreinschauenden Buben in Sonntagshemden und die Schwester mit einem üppig gefüllten Blumenkorb. Wenn er sich das Bildnis anschaut, muss der Südkoreaner unweigerlich daran denken, wie sein Leben wohl im Norden verlaufen wäre. "Sicher wäre ich verhaftet worden, bei meinem Charakter besteht gar kein Zweifel daran. Schon gegenüber meinen Lehrern war ich damals immer der Aufmüpfigste", sagt Shim und lächelt. Im Süden brachte er es mit seiner forschen Art als Beamter beim Kulturministerium zu bescheidenem Wohlstand.

An diesem klaren Herbstmorgen lädt er in sein Bürozimmer, das von Archivmappen und Papierstapeln überquillt. An der einzigen freien Wand hängt eine Korea-Karte, die ein geeintes Land zeigt, das es längst nicht mehr gibt. "Für meinen Sohn ist all das nur Theorie, der kann meine Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung kaum mehr begreifen", sagt Shim.

Kaum noch Gemeinsamkeiten

Tatsächlich sinkt mit jeder weiteren Generation auch das Interesse an einem geeinten Korea: Noch vor 20 Jahren wünschten sich das in Umfragen mehr als 90 Prozent aller Südkoreaner, bei den unter 30-Jährigen ist es mittlerweile weniger als die Hälfte. Nordkorea wird von der südkoreanischen Jugend zunehmend als fernes Ausland betrachtet – und eine Wiedervereinigung gar als wirtschaftliche Bedrohung für den eigenen Wohlstand.

Für Garri Kasparow ist das nicht weniger als ein "ungeheurer Skandal". Der ehemalige russische Schachweltmeister ist nach Seoul gereist, um mit seiner Menschenrechtsorganisation für humanitäre Hilfe in Nordkorea zu werben. Seine Rede klingt derart zornig, dass den Journalisten auf der Pressekonferenz die Irritation deutlich anzusehen ist: "Südkorea gibt 1,7 Milliarden Dollar für internationale Entwicklungsprojekte aus, aber hat keinen Cent über für seine Nachbarn im Norden", wütet der 52-Jährige. Und auch die Unternehmen würden sich aus ihrer Verantwortung stehlen: So spendet Samsung tausende Smartphones in Afrika und verteilt Hyundai Winterjacken an frierende Kinder in Detroit, doch gleichzeitig vergessen die heimischen Unternehmen auf die Bevölkerung in Nordkorea. Dabei sei das Kim-Regime das übelste unter den Schurkenstaaten, meint Kasparow: "Wenn wir uns damals in der Sowjetunion Trost zusprechen wollten, haben wir stets gesagt: Zumindest ist es hier nicht so schlimm wie in Nordkorea."

Wie zum Beweis droht Kim Jong-un nur wenige Stunden nach Kasparows Ansprache, die Familienzusammenführungen platzen zu lassen, nachdem die südkoreanische Präsidentin Park Geun-hye bei einem Vortrag vor den UN in New York auch die Menschenrechtsverletzungen des Nordens angesprochen hat. Sollte das Regime wiederum kommende Woche zum 70. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei den angekündigten Raketenstart wahrmachen, wird der Süden wohl die Schotten für die Familienzusammenführungen dichtmachen. "Es ist eine Schande, dass beide Koreas die Treffen mit politischen Forderungen verknüpfen", meint Shim Gu-seob. "Wenn der Staat nichts mehr für uns tun kann, muss man das eben selbst in die Hand nehmen." Und das tut der Südkoreaner bereits seit den Neunzigerjahren – auch für sich selbst.

Keine Hoffnung auf Wiedersehen

Über einen chinesischen Mittelsmann hatte er 1992 Briefkontakt zu seinem drei Jahre jüngeren Bruder aufnehmen können und zwei Jahre später, mithilfe von Schleppern, ein einmaliges Wiedersehen auf chinesischem Boden organisiert. Drei Tage lang haben die Brüder sich unterhalten, umarmt und unentwegt gelacht. "Beide haben wir unser Bestes gegeben, traurige Themen zu vermeiden", sagt Shim. Die übrigen Geschwister sind bereits gestorben.

Bis heute hat Shim mehr als hundert solcher "illegaler" Familientreffen organisiert. Seit jedoch die Grenzkontrollen strikter geworden sind und seine Gesundheit nicht mehr mitspielt, konzentriert er sich auf das Vermitteln von Briefkontakten oder schleust über chinesische Händler Mobiltelefone an Familienangehörige im Grenzgebiet.

Dass er seinen eigenen Bruder noch einmal wiedersehen wird, glaubt Shim längst nicht mehr. Gleich nach ihrem Treffen wurde dieser in Nordkorea verhaftet und verurteilt und sitzt seither in einem Arbeitslager für politische Gefangene. (Fabian Kretschmer, 3.10.2015)