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Moralvorstellungen weichen auch Forschern und Forscherinnen nicht immer von der Seite.

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Wiebke Driemeyer, Benjamin Gedrose, Armin Hoyer, Lisa Rustige (Hg.): Grenzverschiebungen des Sexuellen. Perspektiven einer jungen Sexualwissenschaft

Psychosozial-Verlag, Gießen 2015, 257 Seiten, 30 Euro.

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Zum Sex gehören Grenzen. Was erstmals nach zu viel der Disziplin in puncto Lust klingt, beschreibt das Buch "Grenzverschiebungen des Sexuellen" gleich auf den ersten Seiten recht plausibel als zentrale Konstitutionsbedingung von Sexualität. Damit sich Sexualität mit Begehren oder geteilten Gefühlen verbindet, braucht es eine Sphäre der Sicherheit, über die Menschen frei und mit Vetorecht verfügen können, heißt es darin über das Verhältnis von Grenzen und Sex. Sie bestimmen, wo Sex aufhört und Gewalt anfängt.

Eine hochkomplexe Thematik – ist doch gerade im Bereich des Sexuellen die Verletzbarkeit besonders hoch. Gleichzeitig sind die Grenzverläufe individuell, fluid und noch dazu einem ständigen gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt. Doch genau deswegen müssten diese Grenzverläufe ständig im Blickfeld bleiben, heißt es im Vorwort.

Frischer Blick vom Nachwuchs

Der Band versammelt Beiträge des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft wie auch der Sexualmedizin und -therapie. So sollen andere Perspektiven entstehen und neue Forschungsfragen aufgeworfen werden. Denn selbst wenn der Zugang zu Sex ein wissenschaftlicher ist – die Moralvorstellungen weichen den Forschenden nicht immer von der Seite.

Ein Beispiel, was dabei übersehen werden kann, liefern etwa Gesine Plagge und Silija Matthiesen in ihrem Beitrag "Zur Studienzeit gehört der erste One-Night-Stand". Forschungen über das unverbindliche Sexualverhalten von Studierenden US-amerikanischer Unis gebe es zwar, allerdings vor allem mit Fokus auf die gesundheitlichen Risiken. Wie steht es mit dem Verhütungsverhalten experimentierfreudiger junger Leute, und was bedeutet dieses für das Risiko ungewollter Schwangerschaften? Fragen wie diese wurde ebenso untersucht wie die Gefahren der Übertragung sexueller Krankheiten.

Die möglichen positiven Erfahrungen, die sich aus einer studentischen Sexualkultur ergeben können, bleiben durch den dominanten Fokus auf die Risiken allerdings im Verborgenen. Die Konzentration auf die Risiken unverbindlicher Sexualität deuten auch auf eine Logik repressiver Sexualmoral hin, schreiben Plagge und Matthiesen. Sie haben Sex außerhalb von Beziehungen und fernab von Liebe anhand von 100 Interviews analysiert. Was "unverbindlicher Sex" überhaupt ist, wie unbekannt sich also die Beteiligten sein müssen – darüber gab es etwa keine völlig Einigkeit.

Spannend das Fazit der Untersuchung: Die Liberalisierung der letzte Jahrzehnte, die sexuelle Experimente und unverbindlichen Sex erst möglich machte, entwickelte sich offenbar bei vielen von "du darfst" zu "du sollst": Unter ein bestimmtes Maß an sexueller Erfahrung und Kompetenz sollte man nicht rutschen. Das klingt nicht unbedingt nach Spaß.

Was es alles noch zu wissen gäbe

Dieser Beitrag wurde unter dem Abschnitt "Sexuelle Beziehungsweisen, Solosexualität und irgendwie andere Sexualitäten" einsortiert, der für interessierte Laien am geeignetsten ist. Darunter beschäftigt sich ein weiterer Beitrag mit dem studentischen Milieu ("studentische Beziehungsstrukturen"), womit Interesse am Sex anderer sozialer Gruppen geweckt, aber nicht befriedigt wird.

Ansonsten wird eher nach biologischem Geschlecht oder sexueller Identität systematisiert, wie etwa Erik Mayers Beitrag über den möglichen Bedarf niederschwelliger Beratung für Transgender-Menschen. Spätestens an diesem Punkt der sexuellen Identität angekommen, bekommt der Dreh- und Angelbegriff des Buches nochmal eine weitere unüberschaubare Dimension.

Mit dem Buch ist eine Publikation gelungen, mit der sich Interessierte eine blasse Vorstellung über ein riesiges Forschungsfeld einer noch jungen Disziplin machen können. Der mitunter sperrige Jargon wird weitgehend durch den ambitionierter Zugang sowie die Themensetzung wettgemacht, wodurch den Leserinnen und Lesern eine vage Idee davon bekommen, was es alles über Sex noch zu wissen gäbe. (Beate Hausbichler, 1.10.2015)