Vermutlich ist es total abgeschmackt und uncool, mit einem Leonard-Cohen-Zitat zu beginnen. Andererseits stimmt der Titel. Und das Lied ist wunderschön – obwohl es sich nicht zum Laufen eignet. "First we take Manhattan, then we take Berlin." Das passt. Auf 1.001 Arten. Unter anderem wegen des Gänsehaut- und Herzausreißergefühls, die Song und Lauf und Stadt … Aber der Reihe nach.

Eigentlich war ja etwas anderes geplant gewesen. Chicago. Oder Boston. Aber einfach so zum Spaß hatte ich halt auch an der Startplatz-Lotterie für Berlin teilgenommen – und gewonnen. So wie viele österreichische Läufer in meinem Umfeld.

Foto: Thomas Rottenberg

Berlin also. Ein wunderschöner Kurs in einer wunderschönen Stadt. Flach. Schnell. International – und ich rede nicht von der Elite, sondern vom Jedermann- und Jederfrau-Feld: 41.000 Menschen starten hier – und im Gegensatz zu Städten wie Wien, die sich ein "Marathon"-Präfix vor den Stadtlauf-Namen stellen, ist in Berlin dort, wo Marathon draufsteht, auch wirklich Marathon drin: Inline-Skater. Rollstuhlfahrer. Handbiker. Und Läufer. (Und selbstverständlich immer auch -innen): Wer in Berlin an den Start geht, hat (bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen) den Fokus auf 42,195 Kilometer gestellt.

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Bevor mir jetzt wieder unterstellt wird, eine Kampagne gegen den Vienna City Marathon zu fahren, rede ich nicht von Zahlen- und Startblockungereimtheiten daheim – und bleibe an der Spree. Beim Best-Practice-Modell.

Berlin ist strikt, aber herzlich. Die Regeln sind klar. Wer sich daran hält, wird nicht nur mit Respekt, sondern mit allumfassender Freundlichkeit behandelt, die – das merkt man dann recht rasch – echte Wertschätzung für die Sportler ist: Da freut sich eine Stadt darüber, dass ihr ohnehin labiles Verkehrsnetz de facto zwei Tage lahmgelegt wird. Damit 41.000 Menschen im Kreis laufen können.

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Der Kreis ist natürlich keiner. Denn dann käme man als Läufer nur schwer tatsächlich dorthin, wo Berlin am schönsten ist: in die Mitte. Von der Weitläufigkeit und Großzügigkeit des Start- und Zielbereichs könnte sich so manche Stadt, die behauptet, eine ähnlich große Starterzahl … Stop. Bleiben wir in Berlin.

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41.000 Läuferinnen und Läufer auf einem schnellen, weil flachen Kurs sind natürlich eine Herausforderung: Wenn sich ein paar Selbstüberschätzer im falschen Startblock nebeneinanderstellen und gemächlich losbummeln, kann das die tatsächlich Flinken in den Wahnsinn treiben.

Und auch wenn es auf den ersten Blick unfreundlich wirkt: Daran, sich "seinen"Startblock über belegte Zeiten zu "verdienen" (und auch nur mit belegten Verbesserungen zwischen Anmeldung und Startnummernabholung vorrücken zu dürfen), führt der Weg ab einer gewissen Eventgröße ebenso wenig vorbei wie an strikten Kontrollen beim Einlass in die Blöcke. Und wohl auch an Zäunen rundherum. Und wahrnehmbaren Abständen zwischen dem Auf-die-Strecke-Schicken der Blöcke.

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Ja, das wirkt autoritär. Aber: Wenn sich 5.000 Läuferinnen und Läufer in Bewegung setzen und man trotz der Dichte praktisch vom ersten Meter an vernünftig laufen kann, ohne alle paar Sekunden Haken schlagen zu müssen, ist das Gold wert. Das spart Kraft und Nerven. Macht Stimmung. Und Tempo. Ein seriöser Veranstalter weiß, dass er, auch ohne auf Kosten des "Fußvolks" Staus zu provozieren, zu spektakulären Bildern kommt. Weil da eben auf der ganzen Strecke Menschenmassen unterwegs sind.

Oder stehen: Berlin ist stimmungsmäßig ein Hammer. Egal wo: Die Zuschauer stehen meist (zumindest) in Zweierreihen da und machen richtig Party. Auf Balkonen. Auf dem Gehsteig. In Unterführungen. S-Bahn-Fahrer drücken ebenso auf die Hupe wie Feuerwehr, Polizei und Rettung (Hupe wohlgemerkt, nicht Folgetonhorn). Und sowohl Passanten als auch Trommler, Cheerleader-Truppen und Straßenbands sind auch noch da, wenn der Pulk der angeblich "Langsamen", also der "Normalos", nach vier, fünf oder sechs Stunden endlich dem Ziel näher kommt: Den Ruf "Halt durch, du schaffst das!" vom Straßenrand habe ich nicht nur einmal von der Strecke mit "Solange ihr durchhaltet, laufe ich weiter!" beantwortet gehört.

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Da ist was dran. Denn auch wenn natürlich jeder und jede selbst laufen muss, macht es einen großen Unterschied, ob man sich allein fühlt oder ob jemand da ist: Ich habe es früher affig gefunden, den Namen groß aufs Shirt zu schreiben. Nur: Als ich im Vorjahr in New York neben einem mit "Tom" beschrifteten Hünen aus Colorado lief, war da ein Unterschied zwischen "You are my hero" und "Go, Tom, go!". Menschen funktionieren so. Das Einfache muss nicht immer doof sein.

Das gilt auch auf der Strecke: Ohne meinen Best Laufbuddy Christoph (und seine Frau und meine Freundin an der Strecke) wäre ich nicht ins Ziel gekommen. Im Training war alles nach Plan gelaufen. Aber die Nächte von Donnerstag auf Freitag und Freitag auf Samstag hatte ich kaum geschlafen. Am Samstag, dem Anreisetag, war ich kaasweiß, hatte Schweißausbrüche, Kreislaufprobleme und alles, was sonst noch keinen Spaß macht – und sah in den Gesichtern meiner Freunde, dass sie überlegten, meine Startnummer zu verbrennen. Zu Recht.

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Zum Glück war ich so todmüde, dass ich in der Nacht zum Rennen (auch bei wirklich routinierten Läufern oft eine Schlechtschlafnacht) wie ein Stein mützte. Und mir Sonntagfrüh nicht einreden musste, mich blendend und frisch zu fühlen, sondern es tatsächlich war. Ob und wie lange das anhalten würde, steht dann halt immer auf einem anderen Blatt. Ob ich es tatsächlich schaffen würde, vor einem Start der Rennarzt-Durchsage "Denken Sie dran: Es gibt viele Läufe, aber Sie haben nur ein Leben. Wenn Sie den geringsten Zweifel haben, treten Sie vom Start zurück" zu folgen? Keine Ahnung. Ich hoffe es.

Magenkrämpfe und tolle Stimmung

Christoph ist der stärkere Läufer. Trotzdem liefen wir gemeinsam: Wir bremsten uns und einander gegen- und wechselseitig. Mit Absicht: Es geht um nix. Auch wenn man das unterwegs rasch aus dem Blick verliert. Trotzdem: Etwa bei Kilometer acht bekam ich Magenkrämpfe. Das hatte ich beim Laufen noch nie. Und so früh ist das auch eher unüblich. Ich lief drüber – es funktionierte. Party. Ein Freund. Tausend Leute rundherum – das lenkt ab. Aber bei Kilometer 25 war dann alle Kraft weg: Der Puls war im grünen Bereich, mir tat nichts weh – aber tempomäßig ging nichts mehr.

Christoph tat, als würde auch er langsamer werden. Ich sagte "Ciao, hau schon ab", und weg war er: Das hatten wir so vereinbart. Denn es gibt einen Unterschied zwischen "langsamer werden" und "Hilfe brauchen".

Foto: Thomas Rottenberg

Ich trabte. Deutlich langsamer. Vermied es, auf die Uhr zu schauen. Und auch wenn es zäh war: Der Lauf war nach wie vor toll. Die Stimmung ein Hammer. Doch auch manche Leute rings um mich begannen, "Wirkung" zu zeigen: Es gibt solche Tage. Und "solche". Und heute war eben ein "solcher". Damit muss man umgehen lernen. Und auch erkennen, wann Schluss ist. "Umdrehen wäre jetzt auch blöd", stand bei Kilometer 27 auf einem Schild. Alt. Abgeschmackt. Aber: richtig. Irgendwann wurde es besser. Und bei Kilometer 30 stand plötzlich und unerwartet meine Freundin am Straßenrand. Aussteigen war kein Thema mehr.

Kurfürstendamm. Mehr und mehr Läufer wurden zu Gehern. Mir ging es wieder gut – obwohl das Tempo unter jeder Sau war. Egal. Selbstcheck: Puls okay. Atmung okay. Fokus okay. Ich würde ankommen. Punkt.

Foto: Thomas Rottenberg

Es gibt in jedem Lauf den Moment, in dem aus Wildfremden Familienmitglieder werden. Beim Potsdamer Platz war es so weit: "Go, go, go!", "You are doing fine!", "Alter, du schaust immer noch verdammt gut aus – und ich will dich echt nicht anmachen." Freilich: Wenn einem ein Polizist bei Kilometer 38 zuruft "Letzte Meile! Jetzt!", sollte man vielleicht doch noch einmal kurz nachdenken, bevor man die letzten Reserven anzapft.

Obwohl man die auf den letzten fünf- oder sechshundert Metern in Berlin eh nicht braucht: Beim Einbiegen Unter den Linden, wenn das Brandenburger Tor plötzlich in Sichtweite ist, läuft statt des "Ich" dann das "Es". Und Berlin: der Sound, die Menschenmasse, die Stimmung. Dass ich noch genug Energie habe, eine Gänsehaut zu kriegen, hätte ich echt nicht geahnt …

Foto: Thomas Rottenberg

Zielline. Zeit? Total egal. Da ist jetzt nur dieses Ganzkörpergrinsen. Die Gänsehaut. Das Lachen in den Gesichtern ringsum – auch wenn alle fertig sind: ausgepowert, salzverkrustet. Wundgescheuert. Dehydriert. Unterzuckert. Sonnenverbrannt. Ausgelaugt. Zerstört. Müde. Aber glücklich. Natürlich: auch darüber, dass es vorbei ist. Für dieses Mal. Denn auch wenn Menschen, die einander noch nie zuvor gesehen haben, einander jetzt versichern, dass das gerade ihr letzter "Großer" war: Wir wissen, dass wir lügen.

Foto: Thomas Rottenberg

Es geht nämlich nicht um Zeiten. Nicht um den Vergleich mit anderen. Sondern um das, was wir uns selbst zutrauen – und das, was möglich ist: Dazwischen liegen Welten. Und die kann man nur auf eine Art erkunden: Man muss sich hintrauen. Oder es lassen.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Berliner bleiben

Zurück zu Berlin. Zur Strecke: Während wir schon wieder erholt sind, strömen Massen ins Ziel. Ein Fluss, der nicht enden will. Aber die Berliner bleiben. Sie stehen an der Straße zum Brandenburger Tor und und feuern an. So, als wäre der Opa, der da bald fünf Stunden läuft, der Sieger. Irgendwie ist er es auch. So wie alle, die mir entgegenkommen, als ich schon wieder am Leipziger Platz, beim Hotel, bin.

Foto: Thomas Rottenberg

Später, längst geduscht und zwei Espressi später, kommt der "Kehrwagen": zwei Reisebusse voll müder und abgekämpfter Helden. Dahinter ist das Rennen zu Ende. Wer in oder hinter den Bussen ist, ist nicht mehr im Klassement.

Foto: Thomas Rottenberg

Offiziell. Ich habe es nicht selbst gesehen, glaube es aber gern. Außerdem sah ich spätabends noch die ältere Muslima mit Kopftuch und Joggingkleid, die sogar noch 200 Meter hinter dem Bus als Allerallerletzte mehr wankte als ging (und den Polizisten, der neben ihr herstapfte und sie anfeuerte, nicht einmal mehr sah), mit einer Medaille in einem Restaurant müde ihre Suppe essen: Die Busse bleiben vor dem Brandenburger Tor (also exakt bei Kilometer 42) stehen – und lassen die Fahrgäste aussteigen. 195 Meter sind es dann noch.

Foto: THomas Rottenberg

Die schafft jeder. Jede. Bekommt die Medaille. Und die Gewissheit, in Berlin den stärksten und zähesten Gegner besiegt zu haben, den es gibt: sich selbst. Und nur darum geht es. (Thomas Rottenberg, 1.10.2015)

Nachfolgend noch einige Impressionen:

Foto: Thomas Rottenberg
Foto: THomas Rottenberg
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