Aus militärischer Sicht ist eher davon auszugehen – wobei sich genügend ähnliche Prognosen in den vergangenen Jahren als falsch erwiesen haben -, dass die Taliban Kunduz nicht lange halten werden. Aber die Einnahme der Provinzhauptstadt durch ein paar hundert Kämpfer ist ein tiefer Einschnitt in die Zukunftshoffnungen Afghanistans. Die Taliban-Offensive gegen die seit Monaten eingekreiste Stadt wurde vorausgesagt, in Kunduz befanden sich viel mehr Sicherheitskräfte als Angreifer.

Weder die lokale militärische Führung in Kunduz noch jene auf nationaler Ebene war imstande, adäquat zu reagieren, und das trotz einer starken US-Militärberaterpräsenz im Land. Wie im Irak werden die Amerikaner den Rechenstift hervorziehen und kalkulieren, wie viel sie der Aufbau einer Armee schon gekostet hat, die ihre Aufgaben nicht erfüllen kann. Wie im Irak.

Für Präsident Ashraf Ghani ist es eine Niederlage mehr, die große Wende zur Stabilität seit dem Führungswechsel nach Hamid Karzais Abgang ist ausgeblieben. Nicht einmal die vermeintliche Schwäche des Gegners, der nach dem Tod von Mullah Omar gespaltenen Taliban, brachte Dividenden: Für den neuen Führer, Mullah Akhtar Mansur, der sich zuletzt zumindest mit Teilen der zuerst gegen ihn opponierenden Familie von Omar versöhnte, ist der Sieg von großer Symbolkraft. Die Taliban können wieder Städte einnehmen, nicht nur das Land unsicher machen. (Gudrun Harrer, 29.9.2015)