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Tamiflu wurde jahrelang als Wundermittel gegen Influenza gepriesen. Wissenschafter zweifelten aber daran, bis die Cochrane Collaboration die Veröffentlichung der Daten durchsetzte.

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Ida Sim: "Ein großes Problem ist, dass Studien mit negativen Ergebnissen nicht publiziert werden."

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STANDARD: "Evidenzbasierte Medizin" ist so etwas wie der Goldstandard in den medizinischen Wissenschaften. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass es auch Medizin ohne "Evidenz", also ohne Datenbasis, gibt?

Sim: Es kommt natürlich darauf an, wie Sie den Begriff definieren. "Evidenzbasiert" heißt für mich, dass medizinische Aussagen auf Daten und einer sorgfältigen und vorsichtigen Interpretation dieser Daten beruhen müssen. Es gibt natürlich viele Bereiche in der Medizin, wo das nicht so ist. Etwa, weil gewisse Fragen einfach noch nicht untersucht wurden. Ich arbeite auch als Ärztin und weiß aus Erfahrung: In der täglichen Arbeit trifft man manche Entscheidungen intuitiv – deswegen bezeichnet man die Medizin ja auch als Kunst und Wissenschaft.

STANDARD: Einer der großen Kritiker Ihrer Zunft ist John Ioannidis von der Stanford University. Ihm zufolge ist jede zweite medizinische Studie falsch oder fehlerhaft. Was läuft falsch?

Sim: Eine ganze Menge. Die Wissenschaft ist nicht perfekt, Fehler gibt es überall. In manchen Fällen ist das Studiendesign einfach schlecht. Ein weiteres Problem ist, dass Studien mit negativen Ergebnissen häufig nicht publiziert werden. Es werden gewissermaßen nur die Rosinen herausgepickt. Und selbst bei den positiven Ergebnissen erfährt man oft nichts über mögliche Nebenwirkungen. Das führt natürlich mitunter zu groben Verzerrungen.

STANDARD: Dennoch: Ist es nicht überraschend, dass es in der so hochentwickelten Medizin so hohe Fehlerraten gibt?

Sim: Es gibt viel Verbesserungsbedarf. Ich glaube vor allem, dass die Anreize die falschen sind: Es geht nur ums Publizieren, wenn man diese Hürde überwindet, ist eigentlich alles gut.

STANDARD: Die Cochrane Collaboration will hier gegensteuern, indem sie das verfügbare Studienmaterial sichtet und statistisch zusammenfasst. Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre?

Sim: Der Beitrag der Cochrane Collaboration zur evidenzbasierten Medizin war groß. Letztlich hat sie die Art und Weise, wie wir die Medizin betrachten, grundlegend verändert. Ihre Überblicksstudien haben uns gezeigt, wie wichtig die Methoden und die Statistik sind. Aber um ehrlich zu sein: Als praktizierende Ärztin sind die Cochrane-Reviews nicht meine erste Informationsquelle. Und ich glaube, dafür sind sie auch nicht gedacht.

STANDARD: Weil sie zu technisch sind?

Sim: Nein, das nicht. Aber wenn mir zum Beispiel ein Parkinson-Patient gegenübersitzt, dann habe ich etwa 20 Minuten Zeit, um acht wichtige Fragen zu beantworten. Und dann möchte ich nicht nur wissen, ob das Medikament A gegen Parkinson wirkt, sondern ich möchte auch wissen, wie man die Krankheit grundsätzlich behandeln kann, wie die Richtlinien aussehen und so weiter. Diese Informationen könnten natürlich wieder auf Cochrane-Reviews beruhen.

STANDARD: Wo haben die Cochrane-Arbeiten das Bild grundlegend verändert?

Sim: Zum Beispiel bei der Mammografie. Früher gab es Extremstandpunkte, die einen sagten "Mammografie ist gut", die anderen sagten "Mammografie ist schlecht". Es gibt zwar noch immer eine intensive Diskussion über die Vor- und Nachteile, aber die Diskussion steht nun auf einer wissenschaftlichen Basis.

STANDARD: Was halten Sie von der Tamiflu-Studie, die die Cochrane Collaboration zuletzt veröffentlicht hat? Sie zeigte: Die Wirkung des Influenzamedikaments wurde vom Pharmakonzern Roche überschätzt.

Sim: Das ist ein anderes Beispiel. Es ging um Interessenkonflikte ...

STANDARD: Roche hat die klinischen Rohdaten erst herausgerückt, nachdem Cochrane Druck gemacht hatte.

Sim: Pharmafirmen investieren Milliarden Dollar in klinische Studien und haben natürlich Interesse daran, dafür wieder etwas zu bekommen. Das ist in gewisser Hinsicht verständlich und passiert auch im akademischen Bereich: Wenn Wissenschafter ihre gesamte Karriere einer Theorie gewidmet haben, werden sie die Widerlegung der Theorie vielleicht auch nicht publizieren – das liegt in der menschlichen Natur. Denken Sie an den aktuellen VW-Abgasskandal: Möchten Sie, dass Autohersteller auch die Qualität Ihrer Autos beurteilen? Eher nicht. Doch genau das passiert zurzeit im klinischen Bereich. Die Pharmafirmen bezahlen die klinischen Studien – und sie bewerten sie auch. Die Evaluierungen müssten von unabhängi- gen Institutionen durchgeführt werden. Doch ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zeit passiert.

STANDARD: Was erwarten Sie von der Zukunft der evidenzbasierten Medizin?

Sim: Eine der großen Herausforderungen ist aus meiner Sicht das Publikationssystem. Klinische Studien werden oft erst Jahre nach ihrem Abschluss veröffentlicht. Die Medizin muss viel schneller werden. Als Vorbild sehe ich die Genomforschung. Als in den 1980er-Jahren das Erbgut des Syphiliserregers sequenziert wurde, veröffentlichten die Forscher zeitgleich zur Studie in Science auch die gesamte Gensequenz in einer Datenbank. Man konnte das Paper lesen und sofort mit den Daten arbeiten. Das brauchen wir bei klinischen Studien.

STANDARD: Sie werden in Wien einen Vortrag über die "unausgewogene Zukunft der evidenzbasierten Medizin" halten. Wo sehen Sie Schieflagen?

Sim: In manchen Regionen arbeiten die Mediziner auf Grundlage der neuesten Erkenntnisse und in manchen tun sie das nicht – noch nicht. In den USA gibt es etwa Krankenhäuser, in denen Datenbanken und künstliche Intelligenz zum klinischen Alltag gehören. Das Sloan Kettering Cancer Center in New York hat etwa einen Vertrag mit IBM abgeschlossen und verwendet dessen Programm "Watson". Es wurde übrigens von den gleichen Leuten entwickelt, die auch "Deep Blue" entwickelt haben – jenes Programm, das Garri Kasparow im Schach besiegt hat. "Dr. Watson", wie wir ihn nennen, hat alles über Onkologie gelernt, was es zu lernen gibt, und gibt auf Grundlage dessen Empfehlungen ab. Er ist tatsächlich ein Partner der Ärzte. Um William Gibson zu zitieren: Die Zukunft ist bereits da – nur ist sie nicht überall gleichmäßig da. (Robert Czepel, 30.9.2015)