Das Lagerdenken ist wieder da. Auch die damit verbundenen latenten Aggressionen. Und die entsprechenden Ängste. Ausgelöst wurde der alte Reflex durch die Kombination aus Flüchtlingsthematik und der bevorstehenden Richtungswahlen in Wien. Die "linke Reichshälfte" gegen die "rechte Reichshälfte" heißt es wieder. Oder noch einfacher "Die Linken" gegen "Die Rechten". Die "naiven Gutmenschen" gegen die "unmenschlichen Dumpfbacken". Wir oder die. Die oder wir.

Dabei ticken wir, was die Grundmotive für unser Denken, Reden und Handeln anbelangt, erstaunlich ähnlich. Unser aller Antrieb nämlich ist: Egoismus.

Egoismus? Nein, das glauben wir nicht, weder wir Linken noch wir Rechten (und auch wir Gemäßigten wollen es nicht so recht wahrhaben, aber zu uns kommen wir noch). Der Egoismus jedenfalls ist uns Menschen eingeschrieben, ob wir wollen oder nicht. Er treibt uns an, lässt uns als Spezies überleben, seit mehr als einer Million Jahren nun. Der Egoismus ließ schon unseren Vorgänger, den Homo erectus, buchstäblich gut dastehen, wenn er ihn zu kanalisieren wusste, also je nach Situation martialisch auftrat oder sich in seiner Gruppe Ansehen erwarb mittels Güte und Mildtätigkeit.

Nun könnte man behaupten, die Rechten seien bis heute nicht über den Status des Homo erectus hinausgekommen, da sie bestenfalls in ihrer engen Gruppe mitfühlend seien. Die wohltuende Seite des Egoismus bei den Linken hingegen greife weit darüber hinaus, sei damit beinahe schon Altruismus, weil sie ihr Mitgefühl auch jenen außerhalb ihrer Familie, Gruppe, Staatsangehörigkeit zugutekommen lassen – was angesichts der Welt als Dorf und ein paar Jährchen menschliche Evolution ja auch nicht abwegig wäre. Doch es so zu sehen wäre zu vereinfacht.

· Wir Linken wünschen uns eine bessere, gerechtere Welt für alle. (Wir Rechten nicht, vorher muss es unseren Leuten tipptopp gehen.) Doch leider mussten auch wir Linken zuletzt erkennen, dass unserer Kraft, unserem Vermögen und auch unserem Willen Grenzen gesetzt sind. Die Flüchtlingskrise machte es uns schmerzlich bewusst. Den Menschen, die kommen, muss geholfen werden, das ist selbstverständlich für uns. Aber was tun, und leider ist das ja nicht nur rechte Propaganda, wenn noch Millionen nach Europa kommen wollen. Hält unsere Einstellung der Realität dann noch stand? Dann nämlich müssten wir nicht nur ein paar Wochen oder Monate freiwillig helfen. Dann müssten wir ein völlig anderes Leben führen. Dann geschähe die gerechte globale Umverteilung, die wir politisch immer fordern, auf eine dramatische und unmittelbare Weise, die wir nicht vorhergesehen haben. Wie viele, selbst von uns, würden bereit sein dafür? Vermutlich nicht mehr als jene paar Tausend Ausnahmemenschen, die zuletzt durch ihren Einsatz dafür gesorgt haben, die Zivilgesellschaft und die Politik endlich in die Gänge zu bringen.

· Wir Gemäßigten haben das hoch an der Zeit gefunden, die Flüchtlingshilfe aus der Mitte unserer Gesellschaft und auch die neue Willkommenskultur. Schön war dieses Gefühl. Wir haben uns auch gerne beteiligt und gespendet, Geld, Kleider, Nahrungsmittel. Es war zu spüren, dass hier etwas Besonderes im Gange ist, alle haben zusammengeholfen. Die Entwicklung zuletzt war aber doch etwas beklemmend: weitere Hunderttausende auf dem Weg zu uns, und nun vielleicht nicht nur auf der Durchreise. Klar, sie brächten sich ein, arbeiteten, zahlten Steuern, aber letztlich würde es unserem Sozialsystem gewiss Milliarden kosten, seien wir uns ehrlich. Zudem gehören diese Menschen ja auch wirklich einer anderen Kultur an, einer anderen Religion, manche sind gewiss traumatisiert, gewaltbereit, da sollten wir uns nichts vormachen. Wie es scheint, hat der Altruismus, diese zivilisierte Spielart des Egoismus, ein rasches Ablaufdatum, sobald er über die Liebe zu unseren engsten Angehörigen und Freunden hinausreichen soll.

· Wir Rechten machen uns diesbezüglich erst gar nichts vor. Im Gegenteil, wir stehen zu unserer Engstirnigkeit, und unsere Führung zelebriert sie sogar als politischen Wert. Aber die meisten von uns wollen mit Politik eigentlich gar nichts zu tun haben, wir fühlen uns einfach unverstanden und in die Ecke gedrängt. Die Linken haben allen gegenüber Verständnis, sind allen gegenüber tolerant. Warum uns gegenüber nicht? Sind wir denn keine Menschen? Die Einstellung, für die wir kritisiert werden, haben wir uns sicher nicht eigens ausgesucht. Unsere Herkunft, unsere Jugend und die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, in denen wir leben, haben uns kaum eine andere Möglichkeit gelassen, als rechts zu werden. Außerdem, was heißt rechts? Wir haben es halt nicht so leicht wie die Bobos. Wir müssen echt Angst haben um unsere Arbeitsplätze, um die Sozialhilfe und die Wohnung. Wir machen uns auch ehrlich Sorgen um unsere Identität, unsere Heimat und dass alles vor die Hunde geht. Gerade die obergscheiten Linken sollten das doch verstehen, oder? Die reißen sich den Arsch auf für die Flüchtlinge, und auf uns schaut keiner. Dass wir selbst von den Linken nichts wissen wollen, steht auf einem anderen Blatt. Der Klügere mag ja nachgeben, der Stärkere jedenfalls nicht.

Wir Linken, Rechten und Gemäßigten: Neurologen meinen entdeckt zu haben, dass nicht wir Menschen unser Gehirn steuern, sondern je nach unserer Genetik und Sozialisation unser Gehirn uns steuert. Beweisen wir unserem Gehirn doch hin und wieder, dass wir tun, was wir für richtig halten. Handeln wir nicht so wie der Mensch, der wir sind, sondern wie der Mensch, der wir sein möchten. Springen wir über unseren Schatten und lächeln einen Linken an, zeigen Verständnis für einen Flüchtling, einen Rechten, einen Punk, einen Skinhead, und im äußersten Fall selbst für einen wankelmütigen Gemäßigten. (Thomas Sautner, 24.9.2015)