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Flüchtlinge in der marokkanischen Provinz Nador im Februar dieses Jahres. In solchen Camps warten sie ab bis sie versuchen, in die spanische Enklave Melilla zu gelangen.

Foto: AP/Abdeljalil Bounhar

STANDARD: Professor Fellmann, Sie haben zuletzt einen Aufsatz veröffentlicht, in dem Sie konstatieren, dass der Blick auf die Geschichte seit der postmodernen Wende vor allem aus der Perspektive der Betroffenen erfolge. Durch diese Subjektivierung der Geschichte sei etwas verlorengegangen. Was denn?

Fellmann: Verlorengegangen ist die Distanz, die wir brauchen, um unsere gegenwärtige Lage realistisch einzuschätzen. Diese Distanz gewinnt man, wenn man sich an Ideen oder Werte hält, welche Epochen voneinander unterscheiden. Sicherlich kann es ergreifend sein, sich in den Standpunkt der Betroffenen zu versetzen, aber da bleibt man im Menschlich-Allzumenschlichen. Damit gelangt man nicht zu einem wirklichen Verständnis der Alterität, die vergangene Epochen von der Gegenwart trennt. Geschichtliche Wirklichkeit wird zur Fiktion.

STANDARD: Sie heben hervor, dass die Subjektivierung der Geschichte mit dem Lebensgefühl des postmodernen Menschen einhergeht. Läuft es auf eine Dichotomisierung hinaus – Emotionalität vs. Vernunft, Relativismus vs. Eindeutigkeit, hedonistisch vs. nüchtern?

Fellmann: Dichotomien sind so schlecht nicht wie ihr Ruf. Emotion und Intelligenz gehören im normalen Leben zusammen. Wenn aber das Emotionale zu dominant wird, ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass man mit Affektprogrammen allein das kulturelle Leben nicht gestalten kann. Die Folgen für das gegenwärtige Geschichtsbewusstsein sind, dass es dieses gar nicht mehr gibt. Es gibt nur noch Gegenwartsbewusstsein, das in die Vergangenheit projiziert wird. Zeitgeschichte, Zeitzeugen und Autobiografien bestimmen unsere Erinnerungskultur. Der Unterschied zwischen Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein entspricht jenem zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Erinnerung setzt voraus, dass man selbst dabei war. Ich kann mich etwa daran erinnern, dass mir als Kind ein russischer Soldat Sonnenblumenkerne zu essen gegeben hat. Aber die erlebte Zeit entspricht nicht der geschichtlichen Zeit, die sich an den objektiven Daten orientiert. So der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Die politische Bedeutung des polnischen Einmarsches in Schlesien nach der Kapitulation habe ich erst viel später von den Historikern gelernt. Das macht das historische Gedächtnis aus, das noch wirksam bleibt, wenn sich niemand mehr an die Erlebnisse erinnern kann.

STANDARD: Im Deutschlandfunk haben Sie zuletzt die These aufgestellt, bei der Flüchtlingsbewegung handle es sich tatsächlich um eine neue Völkerwanderung. Was genau meinen Sie damit?

Fellmann: Der Unterschied zwischen Flüchtlingsströmen und Völkerwanderung liegt nicht in der enormen Anzahl von Menschen, die nach Europa kommen, sondern in der Qualität der Bewegung. In Analogie zur Völkerwanderung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ist die gegenwärtige Wanderung dabei, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Dass die Politiker das nicht anerkennen, hängt mit dem Mangel an historischem Bewusstsein zusammen. Unser Gegenwartsbewusstsein verzerrt unsere Wahrnehmung des Fremden. Wir verurteilen heftig fremdenfeindliche Ausschreitungen, und das mit Recht. Doch die meisten von uns wohnen und leben in Verhältnissen, in denen sie mit Ausländern nicht wirklich konfrontiert werden. Bei der Fremdeneuphorie der Intellektuellen ist viel falsches Bewusstsein im Spiel. Wir halten es für ein Zeichen der Toleranz, dass muslimische Mädchen in der Schule Kopftücher tragen dürfen, aber wenn unsere eigenen Töchter sich so anziehen müssten, bekämen wir es doch mit der Angst.

STANDARD: Wenn es nun diese neuzeitliche Völkerwanderung gibt, was bedeutet das für uns Europäer?

Fellmann: Meine Antwort lautet: Sein oder Nichtsein. Wir sprechen zwar von Integration, aber in Wahrheit bahnt sich eine Transformation unserer Kultur an, vor der wir panische Angst haben. "Angst essen Seele auf" gilt nun auch umgekehrt für uns. Wir werden mit Wertvorstellungen konfrontiert, die unserem Liberalismus widersprechen, etwa mit der konservativen Rolle der Frau in der Familie, um nur ein Beispiel zu nennen, das mit dem Islam zusammenhängt. Dem hat unser überzogener Individualismus und Subjektivismus wenig entgegenzusetzen. Die Säkularisierung und die Verwandlung von Gotteshäusern in Konsumtempel zeigen Parallelen zur Dekadenz der Oberschicht im Weströmischen Reich bei der ersten Völkerwanderung. Byzanz hingegen war durch seine gesellschaftlichen Strukturen resistenter. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, dass unsere Gesellschaft dekadent ist, aber es gibt doch Alarmsignale. Abschied vom Prinzipiellen, grenzenlose Freiheit durch Selbstverwirklichung, Liebe als Beziehungskiste, das sind alles Symptome dafür, dass unsere Demokratie in ein spätkulturelles Stadium eingetreten ist. Spätkulturen aber sind kaum in der Lage, auf Dauer dem Druck standzuhalten, der von institutionell gestützten Lebensformen außereuropäischer Kulturen ausgeht.

STANDARD: Welche Folgen sind zu erwarten?

Fellmann: Um diese Frage zu beantworten, müsste ich Prophet sein. Der Prophet gilt bekanntlich im eigenen Lande nichts, und schon gar nichts, wenn er so alt und konservativ ist, wie ich es nun einmal bin. Aber die wirklich revolutionären Ideen stammen immer von den Alten, die über die bloße Erinnerung hinaus ein historisches Bewusstsein entwickelt haben. Aus dieser Position der Vernunft, die den Subjektivismus übersteigt, kann ich so viel voraussehen: Europa wird durch die Wanderung der Völker aus Afrika und aus dem Nahen Osten wie damals das Weströmische Reich durch die Germanen in seinem Selbstverständnis neu geordnet. Nur müssen unsere Eliten zunächst einmal die Lage erkennen und die Sache beim Namen nennen. "Völkerwanderung" ist keineswegs nur eine Frage der Nomenklatur. Aus der richtigen Benennung ("Richtigstellung der Namen" ist ein Prinzip des Konfuzianismus, den ich sehr schätze) folgt die Bereitschaft, die eigenen Wertvorstellungen zu überdenken und an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Das muss nicht der Untergang des Abendlandes sein. Eher seine Wiederauferstehung aus den Ruinen unseres Lebensgefühls individueller Selbstverwirklichung, die in Wirklichkeit eine Flucht vor der Verantwortung gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit ist. (Georgios Chatzoudis, 19.9.2015)