11. Mai 2015, Izmir (Türkei): Ibrahim, ein christlicher Flüchtling aus Syrien, wartet in einer Absteige in der türkischen Hafenstadt Izmir darauf, dass ihn ein Menschenschmuggler nach Europa bringt. Seine Freundin lebt in Schweden, erzählte er dem Fotografen Daniel Etter. Einer der Schlepper hat sein Büro übrigens direkt in diesem Altstadthotel eingerichtet.

Jurist, Asylrechtsberater und Schriftsteller: Daniel Zipfel.

Foto: Manfred Weis
Foto: Kremayr und Scheriau

Für viele Autoren, die nicht nur Autoren sind, sondern nebenher einen Brotberuf ausüben, ist es eine verständliche Versuchung, Berufserfahrungen und Berufseinsichten in ihr literarisches Werk "einfließen" zu lassen, wie das so schön heißt. "Einfließen lassen", das bedeutet: Man kann von etwas berichten, was man aus erster Hand kennt. Man heimst, sofern man sein Metier versteht, einen Authentizitätsbonus ein. Und: Man darf darüber hinaus auf das Interesse der Leser hoffen.

Denn der Impuls, wissen zu wollen, wie es sich in Berufen abspielt, die man quasi nur von der Außenseite her kennt – und das sind, vom eigenen abgesehen, die meisten –, ist intensiv und weitverbreitet. Was tun Diplomaten, Werbeleute, krebskranke Chemieprofessoren, Boulevardjournalisten, Bestatter, Mafiabosse, Provinzpolitiker, Bademeister, Drogendealer, Schönheitschirurgen, Gerichtsmediziner, Investmentbanker oder Winkeladvokaten, wenn der Tag lang ist? Von der episch breiten Ausgestaltung der Antworten auf diese Fragen lebt derzeit mehr als ein Roman und mehr als eine Fernsehserie.

Fremdenpolizist und Schlepper

Und wenn wir schon dabei sind: Was treibt denn eigentlich jene Figuren um, die momentan grell ausgeleuchtet auf der zeitgeschichtlichen Vorderbühne stehen: die Schlepper, Fremdenpolizisten und anderen Asylbürokraten? Das sollte uns ein Mann wie Daniel Zipfel vermitteln können. 1983 in Freiburg im Breisgau geboren, hat Zipfel in Wien ein Jusstudium absolviert und als Asylrechtsberater und Schriftsteller gearbeitet. Die literarischen Funken, die er in seinem elegant konstruierten Romanerstling Eine Handvoll Rosinen aus dieser Doppelerfahrung und Doppelberufung schlägt, sind beachtlich. Zipfel gehört nicht zu jener großen Kohorte von Hobbyschriftstellern, die sich ihre Berufsprobleme ohne ästhetische Rücksichten vom Leib schreiben, sondern ist ein Profi seines Fachs.

Eine Handvoll Rosinen spielt im Österreich des Jahres 2003, das sich unter asylpolitischen Aspekten offenbar nicht stark vom Österreich des Jahres 2015 unterschieden hat: Schon damals kam, wie wir bei Zipfel erfahren, die Nachricht aus dem Autoradio, dass Bund und Länder bei der Unterbringung von Flüchtlingen "keine Einigung erzielen konnten." Die wichtigsten Protagonisten des Geschehens sind Ludwig Blum, ein ordnungsliebender, aber gutherziger Pedant von einem Fremdenpolizisten sowie der Afghane Nejat Salarzai, Dolmetscher und zugleich ein mit allen schmutzigen Wassern seines Gewerbes gewaschener Schlepper, der aber andererseits nicht frei von humanen Regungen ist.

PVC-Böden und Neonröhren

Blum und Salarzai haben sich bei der professionellen Zusammenarbeit in Traiskirchen kennengelernt, wo auch weite Teile der Romanhandlung angesiedelt sind. Es ist erwartungsgemäß kein sehr angenehmes Milieu, mit dem der Leser konfrontiert wird, und da reden wir noch gar nicht vom Menschlichen, sondern von einer Innenausstattung, in der gesprenkelte PVC-Böden und Neonröhren eine zentrale Rolle spielen. Die kafkaesken Gepflogenheiten der bürokratischen Flüchtlingsverwaltung tun ein Übriges, nur ja keine Heimeligkeit aufkommen zu lassen: "Zwei Erwachsene, zwei Minderjährige, Afghanistan. AIS-Zahlen 0325418 bis 0325421."

Um das Paar Blum/ Salarzai gruppiert Zipfel etliche zum Teil sehr plastisch gezeichnete Nebenfiguren – einen von der Abschiebung bedrohten syrischen Ornithologen, den versoffenen Betreiber einer Notschlafstelle, eine pestige Amtsleiterin – aber den Drive erhält der Roman im Wesentlichen durch das Zusammen- und Gegeneinanderspiel von Blum und Salarzai. Die Motive, aus denen die beiden handeln, sind nachvollziehbar, überzeugend und halten den Roman in Schwung bis hin zum überraschenden Schluss, den die Leser quasi noch als Bonustrack geliefert bekommen (kein Spoiler-Alert nötig, der Rezensent verrät nichts). Das Drängende und Hastende der Handlung akzentuiert Zipfel, indem er weder selbst als reflektierender Autor in Erscheinung tritt noch uns viel Einblick in die Reflexionen seiner Figuren gewährt.

Milieuschilderung ohne Gefühlskitsch

Die Stärken dieses Romandebüts liegen auf der Hand: Konstruktion und Milieuschilderung, aber auch der Umstand, dass sich der Autor konsequent jedem sauren Gefühlskitsch und der Versuchung versagt, dem Leser den einen bösen Schuldigen an einer grauenhaften Situation zum Fraß vorzuwerfen, wie dies manch einer ja gerne hat (die Innenministerin ist schuld, die EU ist schuld, die Amis sind schuld usf.). Eine Handvoll Rosinen spielt durchgehend in einer Atmosphäre der moralischen Ambiguität, und wer in einer solchen Gutes tun will, wird schnell auf Brecht'sche Art belehrt: "Allein, die Verhältnisse sind nicht so." Natürlich kommt auch die Aktualität dem Buch entgegen. In der erschreckendsten, brillant geschilderten, Szene versucht Blum, eine Gruppe erstickungsbedrohter Flüchtlinge aus einem Kühllaster zu befreien: Die Parallelen zur Tragödie auf der Ostautobahn sind gespenstisch frappant.

Der Roman hat auch seine Schwächen, Zipfels Drang etwa, weit ausführlicher über die Witterungsverhältnisse von 2003 zu informieren, als einem dies lieb sein kann. Die Anzahl der Windstöße, Sturmböen, Nebelschwaden und Regengüsse, die er als meteorologische Staffage für die seelischen Nöte seiner Protagonisten aufbietet, ist entschieden zu hoch. Stellenweise überkommt einen das Gefühl, das Buch im Regenmantel lesen zu müssen. Auch anderes ist zu dick aufgetragen: Dass Blum ordnungsliebend ist, hat man so bald verstanden, dass man nicht immer wieder darauf hingewiesen werden möchte, desgleichen ist ein ständig wiederkehrendes Rimbaud-Zitat, das durch den Roman geistert, eine eher entbehrliche Zuwaage. Davon abgesehen aber: Ein gutes, informatives und wichtiges Buch zum großen Pallawatsch, in dem wir alle uns gerade wiederfinden. (Christoph Winder, 19.9.2015)