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Ob es sich beim Tod von Robert Boulin im Jahr 1979 tatsächlich um einen Suizid handelte, sollen französische Behörden in offiziellen Ermittlungen endgültig klären.

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Die Pressefotos von damals sind noch in Schwarz-Weiß gehalten, wie in den französischen Kriminalfilmen jener Zeit mit Alain Delon oder Jean Gabin. Man sieht einen Mann am Rande eines Teiches auf dem Rücken liegen, die rechte Hand in der Luft erstarrt.

So hatte man Robert Boulin am Morgen des 30. Oktober 1979 bei Montfort-L'Amaury westlich von Versailles aus dem knietiefen Wasser gezogen. Tot. In Anzug und Krawatte, aber tot. Eine Stunde später verbreitete Agence France-Presse (AFP) die Eilmeldung vom Suizid des prominenten Ministers, der zuvor als chancenreicher Anwärter auf das Amt des Regierungschefs gegolten hatte. Frankreich war schockiert.

Laut AFP hatte Boulin Barbiturate geschluckt, was sich später als falsch erwies. Sicher ist nur, dass der damalige Arbeitsminister von Präsident Valéry Giscard d'Estaing sein Wohnhaus am Vortag in seinem Peugeot 305 verlassen hatte, allein, aber mit einem Stapel von Regierungsdossiers. Die waren verschwunden, als der Wagen bei dem Teich gefunden wurde.

Tochter: "Das warer purer Unsinn"

Die Angehörigen glaubten nicht an Suizid. Boulin war vor seinem Tod Gegenstand einer politischen Schmutzkampagne gewesen. Zugeschrieben wurde sie den Gaullisten, den Erzfeinden der zentrumsdemokratischen Giscardisten. Der als integer geltende Arbeitsminister sei bei Saint-Tropez in eine unsaubere Immobilienaffäre verwickelt, hieß es. "Das war purer Unsinn", meint seine Tochter Fabienne Boulin-Burgeat; "schließlich wohne ich noch heute in dem Haus."

Die energische Frau, heute 69 und mit kurzen grauen Haaren, erzwang zuerst eine gerichtspolizeiliche Untersuchung. Diese fand keine Barbiturate, dafür im Gesicht des Toten kleine Knochenbrüche. Die erste Autopsie hatte das schlicht "übersehen"; sie verschwand später, zusammen mit anderen Akten.

Dennoch wurde kein offizielles Verfahren eröffnet. Fabienne Boulin-Burgeat unternahm über die Jahre mehrere Anläufe, doch die Justiz lehnte stets ab. Denn da ist auch ein Abschiedsbrief, den Boulin am Vortag seines Ablebens in sechs Kopien verschickt haben soll. Aber auch dies wurde nie näher geprüft. Insgesamt listet die Tochter 77 Unstimmigkeiten der Suizidthese auf.

Die letzte erging 2013, als sich auf eine Fernsehreportage über die ungeklärte "Affäre Boulin" ein Augenzeuge meldete. Er behauptet, er habe den Minister am Vorabend seines Todes am Steuer des Peugeots gesehen, und zwar nicht allein, wie man bisher angenommen hatte, sondern von zwei Männern auf dem Neben- und dem Hintersitz begleitet. Der Zeuge ist bereit, vor Gericht auszusagen. Dank ihm startet die Justiz, wie diese Woche bekannt geworden ist, nun doch noch ein Ermittlungsverfahren. Es lautet auf "Entführung, Festhalten, gefolgt vom Tod oder der Ermordung".

Spekulationen um Chirac

Fabienne Boulin-Burgeat ist kurz vor dem Ziel. Sie will gar nicht mehr als die Bestätigung, dass ihr Vater keinen Suizid begangen hatte. Die Pariser Medien spekulieren hingegen, ob es sich um ein "politisches Verbrechen" gehandelt haben könnte. Nur wenige Medien gehen so weit wie das Onlineportal Linternaute, das offen den Namen von Jacques Chirac nennt. Der ehemalige Staatschef, heute vom politischen Leben zurückgezogen, stand Ende der siebziger Jahre seiner gaullistischen Partei RPR vor.

Der Journalist Benoît Collombat behauptete in einem Buch schon vor Jahren, Boulin habe gedroht, die RPR-Verstrickungen in eine Erdölaffäre in Gabun zu enthüllen. Das gäbe ein Motiv für den Tod des Ministers her. Aber noch keinen Täter oder Auftraggeber. Um sie ausfindig zu machen, braucht Frankreich vielleicht weitere 36 Jahre. (Stefan Brändle aus Paris, 17.9.2015)