Brenda kennt das schon, Brenda hat es hunderte Male erlebt. Dennoch kann sie nie genug bekommen – wieder so ein Abend. Wieder einer, wo keiner aufstehen und schlafen gehen mag. Oben im abgedunkelten ersten Stock sitzen die Träumer, schweigen und halten Händchen, unten in den Ledersesseln drei Schritte von der Bar hocken diejenigen, die lieber plaudern.

Brenda wird ihnen Chardonnay und Büffelkäsehäppchen bringen oder Scotch und Erdnüsse. Bis weit nach Mitternacht werden die Leute diesmal bleiben. Deswegen sind sie hier. Vor 22 Stunden sind sie in den Canadian eingestiegen und wollen nirgendwo hin – obwohl sie nach 86 Stunden und 42 Minuten Zugfahrt am anderen Ende des Kontinents ankommen werden.

Das verglaste Oberdeck, Dome Car genannt, am Zugende bietet einen Rundumblick.
Foto: Via Rail

Nur der Weg ist das Ziel, es geht nur um Abende wie diese. Und um die dazugehörigen Nächte. Und die Tage. Um all die Zeit im Zug, um das Nichtstun und Schauen. Um das Reden oder Schweigen, den Sprung zurück in eine verloren geglaubte Epoche. Es geht um eine legendäre Reise, bei der die Wildnis scheinbar am Fenster vorbeigezogen wird: im Linienverkehr quer durch Kanada, mit dem über einen Kilometer langen Zug von Toronto am Lake Ontario nach Vancouver am Pazifik.

Nach den Sternen greifen

Stewardess Brenda aus Winnipeg liebt diese Abende – weil sie sich von diesem Ausblick aus dem rundum verglasten Oberdeck des Waggons, dem sogenannten Dome Car am Zugende, noch immer genauso packen lässt wie die Fahrgäste. Seit bald einem Vierteljahrhundert kellnert sie in den doppelstöckigen Salonwagen des Canadian und ist doch eher Conférencier als Bedienung, hat für jeden ein paar Sätze parat und lebt ihren Job.

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Toronto ist der Ausgangspunkt der Zugreise quer durch Kanada.

"Wenn du spätabends oben im Panoramawagen sitzt, dann denkst du", sagt Brenda, "du bräuchtest nur den Arm auszustrecken, um nach einem dieser Sterne zu greifen, ihn vom Himmel zu pflücken und deinem Sitznachbarn zu schenken. Sie sind hier so hell, wie sie die Trapper vor 150 Jahren erlebt haben, als kein irdisches Licht den Anblick trübte."

Nadelwälder im Mondlicht

Dutzende Kilometer führt die Strecke immer wieder durch nichts als frühherbstlich verfärbte Mischwälder, die im Indian Summer aufleuchten wie eine buntes Meer aus Bahnsignalen. Dann wieder Moore, bis irgendwann ein Bahnübergang kreuzt und ein paar Häuschen neben die Strecke in die Wildnis gewürfelt sind. Schnell trägt Brenda noch Erdnüsse und Chardonnay von einem Weingut aus Ontario über die enge Treppe nach oben. Derweil hat Schlafwagensteward Perry die Betten in den chromblitzenden Suite-Abteilen der Deluxe-Klasse gemacht. Wer nachts das Rollo offen lässt, sieht die vom Mondlicht erhellten Konturen dichter Nadelwälder wie einen zu schnell abgespulten Film vorbeiziehen.

Wie in den Pioniertagen seit Fertigstellung der Transkontinentaleisenbahnstrecke Ende des 19. Jahrhunderts ist dieser Zug noch immer im Liniendienst unterwegs.
Foto: Via Rail

Am nächsten Morgen, östlich von Winnipeg und über 30 Stunden nach Abfahrt in Toronto, hat sich nicht viel geändert. Weniger Tannen, mehr Birken, nur noch selten ein Bahnübergang, an dem ohnehin niemand wartet: Spätestens dann fällt alle Sorge ab, etwas zu verpassen. Nebelschleier tanzen im Morgenlicht über pechschwarzen Moorseen rechts und links der Gleise.

Wie in den Pioniertagen seit Fertigstellung der Transkontinentaleisenbahnstrecke Ende des 19. Jahrhunderts ist dieser Zug noch immer im Liniendienst unterwegs – dreimal die Woche legt er die 4.466 Kilometer an die Westküste zurück -, drei Tage und drei Nächte sind die Passagiere an Bord und durchqueren drei Zeitzonen.

Genussmittel

Heute ist der Canadian zumindest für die Oberklassepassagiere weniger Fortbewegungsmittel als Genussobjekt. Ein einziges Hotel am Weg wäre ihnen zu wenig. Ihres rollt, und durch Fenster oder Glasdach sehen sie einen Kontinent vorbeiziehen. Ihnen stehen Panorama- und Salonwagen offen, sie haben Schlafabteile mit eigener Toilette, tagsüber mit in Grau bezogenen Sesseln, nachts mit bequemem Bett. Kurzstreckenpassagiere unterdessen sind in einem anderen Teil des Zuges untergebracht und müssen ohne diesen Genuss auskommen.

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Die Rockies vom Zugfenster aus gesehen.

Erst diese Eisenbahn war es, die Kanada zu einer Nation zusammengeschweißt hat. Der Mann, der einst treibende Kraft des Bahnprojektes war, muss unterdessen ein Verrückter gewesen sein. Anders ist diese gewaltige Anstrengung nicht zu erklären. Eisenbahntycoon William Cornelius van Horne ließ seine Canadian Pacific Railway vor nun 130 Jahren in Rekordgeschwindigkeit vom Atlantik aus quer durch die Wälder Ontarios, die Sümpfe Manitobas, die Prärien von Saskatchewan und Alberta und die schönsten Gebirgslandschaften Nordamerikas in British Columbia bis hinüber zum Pazifik bauen. Nur fünf Jahre dauerte es, die Strecke durch den Kontinent zu sprengen. 1885 wurde die Trasse mit dem letzten Teilstück durch die Rockies in Alberta und British Columbia zum Pazifik vollendet.

Geräuschkulisse im Hintergrund

Wann immer der Zug damals auf einem neu eröffneten Teilstück ein paar Dutzend Gleiskilometer weiter Richtung Westen vorankam, war der spleenige General Manager van Horne mit an Bord. Wenn er von der Landschaft besonders beeindruckt war, ließ er den Zug anhalten, packte seine Staffelei aus und bannte das Szenario am Bahndamm in stundenlanger Feinarbeit auf Leinwand. Überwältigte ihn der Eindruck völlig, ließ er an Ort und Stelle ein Hotel errichten. Sein Konzept reduzierte er auf einen Satz: "Wenn wir das Panorama nicht von hier wegschaffen können, dann müssen wir die Touristen eben herbringen."

Ein türkisfarbener Gebirgssee bei Jasper

Anfangs achtet man noch auf die Geräusche: auf das Tuten der beiden jeweils 3.000 PS starken Loks, das man am Ende des Zuges kaum noch hören kann. Auf jedes leise Scheppern. Schon bald aber glaubt man, alles folge einer großen Ordnung – so sehr, dass der Zug nicht nur rhythmisch westwärts rattert, sondern sogar mit einer beruhigenden Melodie bremst. Die Geräuschkulisse rückt in den Hintergrund – fast wie Pianomusik in einer Cocktailbar während einer anregenden Unterhaltung.

Raus in die Wildnis

Jeder Stopp ist eine kleine Attraktion, eine Chance, sich im Freien ein paar Minuten die Füße zu vertreten. Acht offizielle Stationen gibt es an der Strecke, dazu 69 Haltepunkte, an denen nur auf vorherige Vereinbarung kurz gestoppt wird. In solchen Fällen warten Passagiere mit Koffern im nirgendwo am Gleis, um zuzusteigen. Andere verlassen den Zug, um sieben Tage lang eine Blockhütte zu beziehen und Anglerurlaub in der Wildnis zu machen. Dreimal pro Woche werden sie kurz an die Zivilisation erinnert, irgendwann vom Canadian wieder abgeholt.

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In der kanadischen Provinz Ontario führt eine Zugreise mit dem Canadian durch Mischwälder im herbstlichen Farbenrausch. In Alberta scheinen die moosbewachsenen Hochebenen der Rocky Mountains lichterloh zu brennen.

Für das Kulinarische ist Bordkoch Ian Simpson zuständig, für Salat mit Himbeerdressing und Forelle mit Wildreis aus dem Norden von Saskatchewan, für gebratene Scampi und Blaubeereis: "Okay, auf den ersten Blick ist meine Küche winzig, aber letztlich ist alles nur eine Frage der Organisation." Er jongliert mit zwei Pfannen zugleich, hat drei Töpfe auf dem Herd, sortiert nebenbei im Backofen herum und zaubert dreimal täglich Erstaunliches auf die Tische des Speisewagens. Zwischendurch freut er sich über jeden Besuch an der Küchentür.

Tausend Farben

Während Stewardess Brenda Tee serviert, füllt sich das Oberdeck, das ein junges Broker-Pärchen aus New York bis dahin fast für sich allein hatte. Einfahrt in die Rocky Mountains, von wo aus es auf Serpentinentrassen quer durch die Gebirgswelt weiter Richtung Pazifik geht. Hier reißende Flüsse, dort Gänseblümchenwiesen an den Hängen, gegenüber schneebedeckte Gipfel, plötzlich Tunnel, danach wieder in tausend Farben leuchtende Herbstwälder und spiegelglatte Gebirgsseen mit türkis schillernder Oberfläche. Nach jeder Tunnelfahrt wird das Panorama abermals grandioser.

Impressionen
VIARailCanadaInc

Wenig später bestehen die Uferstreifen aus dem Geröll abgetauter Gletscher. Wasserfälle prasseln neben den Gleisen in die Tiefe. Blicke wandern fasziniert über die Hänge der Berge und tasten in den Kurven die gewagten Konstruktionen der Holzbrücken ab. Van Horne wäre begeistert, und wäre es heller, er würde sich wahrscheinlich Staffelei und Malutensilien bringen lassen.

Beruhigend monotones Rattern

Über die Felsen kriecht ein letztes Mal vor Erreichen des Zielbahnhofs die Nacht heran – erst ein orangeroter Streifen, dann pechschwarz. Sterne strahlen wieder wie hintergrundbeleuchtete Löcher am Firmament. Die dritte Nacht im Zug: ein letztes Glas kanadischen Wein, ein letzter Blick aus den Glasfenstern des Panoramawagens. Immer noch dieses beruhigend monotone Rattern. Pünktlich um kurz vor neun Uhr früh wird der Ozean erreicht sein: Einfahrt in Vancouver – 4.467 Kilometer und knapp 87 Stunden nach der Abfahrt in Toronto. Brenda mag Ankünfte nicht. Weil die Menschen dann aussteigen, mit denen sie viel Zeit verbracht hat. (Helge Sobik, Rondo, 17.9.2015)