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Heidenau, Sachsen, am 21. August 2015: Beginn der rassistischen Ausschreitungen gegen eine neu eröffnete Flüchtlingsunterkunft. Die Polizei zeigte sich überfordert – und wurde selbst angegriffen.

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Der Jenaer Soziologe Matthias Quent.

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STANDARD: In Deutschland nimmt die Gewalt gegen Asylsuchende kein Ende, in Österreich ist es vergleichsweise ruhig. Warum?

Quent: Die Stärke der FPÖ führt vermutlich dazu, dass sich Rechtsextreme nicht als so gesellschaftlich ausgeschlossen wahrnehmen wie in Deutschland. Wir haben in Deutschland ja auf Bundesebene keine vergleichbar agierende Partei im Parlament.

STANDARD: Überspitzt gefragt: Ist die FPÖ also gar kein Aufstachler, sondern wirkt sogar mäßigend?

Quent: Hinsichtlich der Gewaltproblematik könnte es sein – das heißt aber nicht, dass sich durch die FPÖ nicht das Klima insgesamt verschlechtert. Wir hatten in Thüringen in manchen Regionen wenige rechtsextreme Gewalttaten, obwohl die Szene groß war. Die Szene blieb unsichtbar, dabei drückte das Fehlen von Gewalt gerade ihre Hegemonie aus – man hatte nichts mehr zu bekämpfen, man war schon etabliert. Ich kann mir vorstellen dass das auch bei Österreichs Rechtsextremen eine Rolle spielt: Wir sind ja schon im Parlament – mit Gewalt würden wir uns den Weg verbauen.

STANDARD: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und zunehmender Gewalt?

Quent: Ja, das heißt aber nicht, dass die Flüchtlinge daran schuld sind. Die hohen Flüchtlingszahlen haben zu einem gesellschaftlichen Diskurs geführt, der bewirken kann, dass sich rechtsextreme Gewalttäter legitimiert fühlen. Sie wähnen sich in einer Notwehrsituation, die es notwendig mache, gegen diesen Flüchtlingssturm – so wird das ja formuliert – vorzugehen. Zweitens gibt es durch die Präsenz von Flüchtlingen in manchen ländlichen Regionen zum ersten Mal potenzielle Opfer für rechtsextreme Gewalttäter.

STANDARD: Das heißt, es gab dort schon vorher Gewaltneigungen, aber keine Zielscheibe dafür?

Quent: Genau. Der Künstler Rainald Grebe singt: "Stehen drei Nazis auf 'nem Hügel und finden keinen zum Verprügeln". Die Rechtsextremen sind da, geben ihre Ideologie an den Nachwuchs weiter – aber so richtig sichtbar werden sie erst, wenn Gewalt auftritt. Was viel darüber aussagt, wie sicherheitsbezogen unser politischer Diskurs ist: Rechtsextremismus wird erst dann nicht mehr bagatellisiert, wenn die Gewalt nicht mehr zu übersehen ist.

STANDARD: Die Attentate werden oft als spontaner Ausbruch von Fremdenhass bezeichnet. Eine angemessene Beschreibung?

Quent: Ich tue mir schwer mit dem Wort Fremdenhass. Es ist Rassismus. Die Etablierten, die sich gewisser Privilegien sicher sind, warnen davor, dass diese Privilegien auf eine Gruppe von anderen übergehen können. "Die nehmen uns unsere Frauen weg", heißt es dann. Die Außenseiter erfüllen eine Sündenbockfunktion. Die Bedrohung, die in ihnen gesehen wird, liegt aber nicht darin, dass sie fremd sind und man sie nicht kennt – sondern darin, dass sie einer konstruierten Gruppe zugerechnet werden, die potenziell zur Konkurrenz werden könnte.

STANDARD: Viele fürchten sich vor Konkurrenz, aber nicht alle denken deshalb rassistisch. Wovon hängt das ab?

Quent: Es hängt davon ab, wem ich die Ursachen für Unsicherheit zuschreibe: einer bestimmten Gruppe oder eher den Verhältnissen? Es gibt bei vielen Menschen gute Gründe, sich benachteiligt zu fühlen oder Kritik an der Gesellschaft zu üben. Aber alles wird komplexer. Wer versteht, wie der Finanzmarkt-Kapitalismus funktioniert? Gibt es überhaupt jemanden, der verantwortlich ist dafür, dass in Syrien kein Frieden einkehrt? Viele sind überfordert, wollen sich aber nicht eingestehen, dass sie nicht in der Lage sind, die Zusammenhänge zu verstehen – was ja nichts Schlimmes wäre, ich bin es auch nicht. Aber um die Unsicherheit zu überbrücken, werden Sündenböcke gesucht.

STANDARD: Wann mündet das Sündenbockdenken in Gewalt?

Quent: Dazu braucht es nicht nur Rassismus und Individuen, die sich zu Gewalt entscheiden, sondern auch eine unterstützende Gruppe. Das kann einfach die eigene Clique sein, es muss gar nicht politisch unterfüttert sein. Der Rechtsextremismus ist ja sehr weit ausdifferenziert, in diverse Subkulturen. Und es gibt eine breite rechtsextreme Musikkultur, in der sehr deutlich und brachial geschildert wird, was denn mit "Kanaken" zu machen sei. Da werden im Kopf Bilder manifestiert, die dann im Alltag umgesetzt werden können.

STANDARD: Österreichs Neonazis sind mit der deutschen Szene vernetzt. Droht die Gewalt überzuschwappen, falls sich auch hier unterstützende Strukturen bilden?

Quent: Ja, das ist möglich. Wobei eine unterstützende Gruppe auch einfach als positive Bezugsgruppe gedacht werden kann. Die muss nicht vor Ort sein, das kann auch über soziale Medien passieren.

STANDARD: Wird die Gewalt in Deutschland weiter zunehmen?

Quent: Ich würde nicht davon ausgehen, dass es in den nächsten Monaten zurückgeht. Oft heißt es: Das ist ja wie in den Neunzigern. Ich würde da vorsichtig sein: Es kann durchaus noch schlimmer werden.

STANDARD: Was könnte getan werden, um das zu verhindern?

Quent: Politiker müssen sich fragen: Wie wirkt das, was ich sage, auf potenzielle Gewalttäter? Die Rechtsextremen suchen Zustimmung für ihr Handeln. In den aktuellen Grenzkontrollen sehen sie Zustimmung. Sie feiern die Kontrollen und sagen: "Das ist unser Erfolg." Politiker müssten solche Ereignisse diskursiv so begleiten, dass sich Rechte nicht legitimiert fühlen.

STANDARD: Das klingt abstrakt. Was soll Angela Merkel sagen? "Wir schließen zwar die Grenzen, aber wir meinen es nicht böse?"

Quent: Zugegeben, die Kontrollen sind ein schwieriges Beispiel – vermutlich waren sie ja tatsächlich ein Erfolg der Rechten. Ein gutes Beispiel ist die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen. Hier sieht man: Es gibt einen Wandel in der Gesellschaft, und darauf gibt es unterschiedliche Reaktionen – von rechtsextrem bis humanistisch-fortschrittlich. Die große Hilfsbereitschaft ist die beste antirassistische Praxis, die man sich vorstellen kann: Es wird signalisiert, dass den verkürzten Zuschreibungen praktisch etwas entgegengesetzt wird.

STANDARD: Wer neigt zu Rechtsextremismus – sind es Menschen, die nichts zu verlieren haben, wie oft behauptet?

Quent: Wir haben eine Thüringer Plattenbausiedlung untersucht, dort wohnen viele Menschen, die von Sozialtransfers leben. Die NPD hat dort intensiv um Stimmen geworben. Aber profitiert hat die Linkspartei. Es hängt also davon ab, welche konkurrierenden Antworten es auf soziale Probleme gibt.

STANDARD: Man wählt also rechts oder links, je nachdem, welcher Kandidat oder welche Kandidatin mehr Charisma hat, unabhängig von Rassismus?

Quent: Viele rassistisch eingestellte Menschen wählen auch die Linke. Wir leben ja in einem postideologischen Zeitalter: Es ist nicht mehr so, dass man als Arbeiter Sozialdemokrat oder Kommunist ist. Und bürgerliche Parteien werden auch von Personen gewählt, die von der Einstellung her rechtsextrem sind. Wohin man tendiert, kann auch vom Elternhaus abhängen: Wie wird die Unzufriedenheit am Abendbrottisch gedeutet?

STANDARD: Führt mehr persönlicher Kontakt zwischen Geflüchteten und Mehrheit dazu, dass rassistisches Denken abnimmt – und damit auch die Gewalt?

Quent: Das ist in vielen Studien bewiesen: Mangelnder interkultureller Kontakt begünstigt Vorurteile. Wenn mein Hassobjekt ein Gesicht bekommt, ist es viel schwieriger, an einseitigen Zuschreibungen festzuhalten. Das heißt nicht, dass man in Wien, wo viele Migranten leben, nicht auch rassistische Einstellungen haben kann.

STANDARD: Die hohe Zahl an Flüchtlingen birgt also eine Chance für den Abbau von Vorurteilen?

Quent: Ja, definitiv. Das wird sich nicht in den nächsten Jahren zeigen. Diese Erfahrungen müssen erst verarbeitet werden, aber ja, für das Miteinander in der Gesellschaft ist das förderlich.

STANDARD: Wie kommen rassistische Gewalttaten in Deutschland ans Licht? Nur dann, wenn sie angezeigt werden?

Quent: Es gibt viele Opferberatungsstellen, die Vorfälle dokumentieren. Das ist wichtig, weil die Polizei nicht jeden rassistischen Übergriff als politisch motiviert dokumentiert. Und auch, weil viele Flüchtlinge schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben und keine Anzeige erstatten.

STANDARD: In Österreich fehlt diese Dokumentation abseits der Polizeistatistik. Müssen wir von hohen Dunkelziffern ausgehen?

Quent: Eine hohe Dunkelziffer gibt es in dem Bereich immer. Gibt es noch dazu keine Erfassung abseits der Polizei, ist definitiv davon auszugehen, dass sie noch höher ist.

STANDARD: Wie kann es sein, dass bei rechtsextremen Demonstrationen im sächsischen Heidenau so wenig Polizei vor Ort war, dass Neonazis die Straße dominieren konnten? Ist das Dilettantismus, oder hat das System?

Quent: Das ist die Gretchenfrage. Es ist logistisch unmöglich, dass nicht genügend Polizei zur Verfügung gestanden wäre, wenn man es gewollt hätte. Die sächsische Landesregierung hat lange bewiesen, dass sie den Rechtsextremismus gar nicht so sehr als Feind sieht – dass der Feind eher links gesehen wird. Das hat sich auch in Heidenau gezeigt: Als die Antifa kam, waren Wasserwerfer da. Als Neonazis Polizisten angriffen, waren diese nicht in der Lage, mehr als eine Person festzunehmen.

STANDARD: Wurden aus der rassistischen Gewalt der 1990er-Jahre die richtigen Lehren gezogen?

Quent: Ich habe nicht das Gefühl, dass überall die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Bevor es 1992 in Rostock-Lichtenhagen brannte, war wissentlich eskaliert worden. Die Einrichtung war überbelegt, Menschen mussten vor Nachbarhäusern urinieren, was natürlich Abwehr hervorgerufen hat. Man sollte heute Unterkünfte so ausstatten, dass nicht vorprogrammiert ist, dass sich Anwohner davon beeinträchtigt fühlen – weil es etwa nicht genügend Toiletten oder Mülltonnen gibt und dann Debatten entstehen wie: "Die wissen ja nicht einmal, wie man Müll entsorgt, die können gar nicht mit unserer Kultur leben." Oft ist das Verhalten einfach den Bedingungen geschuldet. Es wird vernachlässigt, wie sich das auf die politische Kultur auswirkt.

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass die große Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen nach einiger Zeit in Ablehnung umschlägt?

Quent: Das glaube ich eher nicht. Ich fürchte aber, dass Rechtsextreme wieder eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit erhalten als derzeit – jetzt stehen die Helfer im Vordergrund, aber die Bilder können sich ändern. Und ich sehe die Gefahr, dass sich die Helferinnen und Helfer resigniert zurückziehen, wenn der Staat längerfristig seiner Verantwortung nicht nachkommt. Es ist eine Hilfe in einer Ausnahmesituation – aber sie kann nicht die Strukturen des Staates ersetzen. (Maria Sterkl, 15.9.2015)