Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Entscheidung, Grenzkontrollen wieder einzuführen, Europa in eine veritable Krise geführt. Ein Land nach dem anderen folgt nun dem Beispiel Berlins. Die Reisefreiheiten des Schengen-Systems, eine der Errungenschaften der EU, sind weitgehend außer Kraft gesetzt.

Nach zwei Wochen musste sich Merkel der normativen Kraft des Faktischen beugen. Aus ihrer herzhaften Aufforderung "Wir schaffen das" ist ein Eingeständnis geworden, dass Deutschland diesen Flüchtlingsansturm eben nicht bewältigen kann. Die CDU-Chefin gibt dem Druck der Schwesterpartei CSU nach, denn in Bayern konzentrieren sich die Belastungen. Merkel ist aber auch an der mangelnden Solidarität insbesondere osteuropäischer EU-Staaten gescheitert. Sie haben die heimliche Regentin Europas anrennen lassen.

Plötzlich sieht sich Österreich im Zentrum und mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert: Nachdem ÖBB, Polizei und Hilfsorganisationen – unterstützt von sehr vielen Freiwilligen – in den vergangenen Tagen die Aufgaben organisatorisch eindrucksvoll gemeistert haben, täglich mehrere Tausend Menschen zu betreuen, sind über Nacht die Aufgabenstellungen andere: Es geht nicht mehr nur dar um, Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland zu begleiten. Sie wollen oder müssen jetzt bleiben.

Und siehe da, die Regierung agiert wie ein aufgeregter Hühnerhaufen, überrumpelt von der deutschen Entscheidung. Kanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner waren nach der Krisensitzung am Sonntag nicht auf gleicher Linie, Außenminister Sebastian Kurz und Sozialminister Rudolf Hundstorfer gerieten sich in der ORF-Sendung Im Zentrum fast in die Haare.

Am Montag gaben dann Kanzler und Vizekanzler den Assistenzeinsatz des Bundesheeres bekannt. Die eigentliche Nachricht kam aber kurze Zeit später aus Brüssel, überbracht von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner: Österreich führe Grenzkontrollen wie Deutschland durch. Staus an den Grenzen sind die Folge. Damit kann sich jeder ein Bild davon machen, was los ist, wenn der von der FPÖ propagierte Wahlkampfslogan "Mehr Grenzkontrollen" umgesetzt wird.

Nachdem Regierung und Behörden im Sommer mit der Situation im Aufnahmezentrum Traiskirchen nicht zurande gekommen waren, zuletzt aber die Lage mit durchreisenden Flüchtlingen im Griff hatten, wirken die Entscheidungsträger erneut überfordert.

Das gilt auch für Europa. Die Aufteilung von Flüchtlingen gemäß dem Vorschlag der Kommission wäre ein notwendiger Schritt zu fairer Lastenverteilung. Die Innenminister der EU-Staaten konnten sich aber am Montag nicht auf ein fixes Quotensystem einigen und haben die Entscheidung auf Oktober vertagt. Notwendig sind jedoch rasch weitere Schritte wie EU-weite Regeln zur Aufnahme von Asylwerbern. Das sogenannte Dublin-System ist gescheitert, Aufnahmezentren in Griechenland und Italien sind ein richtiger Weg. Notwendig ist auch ein EU-System zur Einwan derung.

Die EU wird außerdem die an Syrien grenzenden Staaten mehr unterstützen müssen. Die Türkei, Jordanien und der Libanon tragen die Hauptlast. Die Frage, wie man den IS-Terror effizient bekämpfen kann, wird immer drängender. Wie Merkels Kehrtwende zeigt: Kein Land in Europa kann das Flüchtlingsproblem allein lösen. (Alexandra Föderl-Schmid, 14.9.2015)