Eine Begegnung zweier Generationen und Klassen: Luis Silva (li.) und Alfredo Castro spielen in Lorenzo Vigas' "Desde allá" zwei Männer, die sich auf ein ambivalentes Verhältnis einlassen.

Foto: Alexandra Bas

Am Ende ist alles Spekulation. Wenn, wie nun auf dem 72. Filmfestival von Venedig, ein Debüt den Hauptpreis bekommt, mit dem niemand so richtig gerechnet hat, sucht ein jeder Erklärungen. Eine davon könnte der Jurypräsident Alfonso Cuarón geben. Cuarón ist Mexikaner, Lorenzo Vigas' Desde allá (From Afar) zwar ein Film aus Venezuela, aber mit Autor Guillermo Arriaga (Amores perros) und Produzent Michel Franco sind auch prominente Landsleute Cuaróns an dem Film beteiligt.

Desde allá ist damit auch ein Beispiel für neue Kooperationsmodelle im lateinamerikanischen Kino, deren Qualität man wohl hervorstreichen wollte. Mit Pablo Trapero wurde auf der Mostra am Samstag auch ein argentinischer Regisseur prämiert. Traperos Gangsterstück El Clan, das mit grotesker Schlagseite die wahre Geschichte eines mörderischen Familienoberhaupts erzählt, der selbst seine Kinder zu Mittätern macht, lief in seiner Heimat schon mit großem Erfolg.

Festivalfilm-Format

Dass Desde allá in Venedig keine Begeisterung auslöste, liegt daran, dass der Film zu kalkuliert das Format Festivalfilm erfüllt. Kameramann Sergio Armstrong, bekannt für seine Arbeit mit dem Chilenen Pablo Larraín, zeigt die Straßen von Caracas in bleichen Breitwandbildern, die überlegt mit Tiefenschärfe operieren. Alfredo Castro spielt Armando, einen Mann aus wohlhabenden Kreisen, einen stillen, einsamen Menschen, der sich auf der Straße junge Männer sucht und sie mit nach Hause nimmt. Dort bezahlt er ihnen Geld, damit sie sich ausziehen, und masturbiert dabei.

Einer von ihnen ist Elder (Luis Silva), der Armando bei der ersten Begegnung zusammenschlägt. Doch die körperliche Rohheit des jungen Mannes, sein proletarischer Gestus, faszinieren den Älteren, und so lässt er nicht locker, bis sich zwischen den beiden eine ambivalente Beziehung einstellt, in der die Klassenunterschiede sichtbar bleiben. Lorenzo Vigas breitet sein Drama in langsamen Szenen aus, wenig wird durch Dialog, mehr durch wechselseitiges Taxieren erzählt. Desde allé macht zwar wenig falsch, riskiert aber mit seiner eng bemessenen Geschichte auch nicht allzu viel.

Puppen mit Melancholie

Wie man einer vertrauten Geschichte mit ungewöhnlichen Mitteln unerwartete emotionale Facetten abgewinnt, das hat im enttäuschenden Wettbewerb von Venedig nur der Puppenanimationsfilm Anomalisa von Charlie Kaufman und Duke Johnson erfolgreich demonstriert. Mit sanfter Melancholie begleitet er einen Geschäftsmann in ein persönliches Erweckungserlebnis. Die Liebesgeschichte, die auch eine Geschichte über die Uniformität westlicher Dienstleistungsgesellschaften ist, wurde mit dem Großen Preis der Jury, der zweitwichtigsten Auszeichnung, gewürdigt.

Andere Mitfavoriten wie der Italiener Marco Bellocchio, der israelische Regisseur Amos Gitai und der Chinese Zhao Liang gingen leer aus. Dafür erhielt die charmante, recht geschmeidige Komödie L'hermine aus Frankreich gleich zwei Preise. Regisseur Christian Vincent, für sein Drehbuch ausgezeichnet, verschränkt eigentlich zwei Filme, die in der Figur eines Richters zusammenlaufen. Der ebenfalls prämierte Fabrice Luchini spielt ihn souverän als leicht verhaltensauffälligen, kränkelnden Einzelgänger, der außerhalb seiner Gerichtsverhandlung einer der Geschworenen (Sidse Babett Knudsen) Avancen macht. Verbunden sind beide Teile des Films durch Fragen um den äußeren Schein: L'hermine erzählt immer auch davon, welche Schlüsse wir aus dem Auftreten der anderen ziehen.

Schwacher Jahrgang

Dass die 72. Ausgabe der Mostra als schwacher Jahrgang in Erinnerung bleiben wird, liegt auch daran, dass das erste große Festival des Herbstes mittlerweile zu vielen Kompromissen genügt. Es dient als Promotionsort großer US-Produktionen, leicht Verdauliches dominiert den Wettbewerb, Wagemutiges wird an den Rand gedrängt – immerhin wurden zwei der formal avanciertesten Filme, Neon Bull vom Brasilianer Gabriel Mascaro und das Debüt des US-Schauspielers Brady Corbet, The Childhood of a Leader, in der Sektion Orrizonti prämiert.

Riskant in einem anderen Sinn blieb auch das Unterfangen des einzigen österreichischen Films in Venedig, Andreas Horvaths Helmut Berger – Actor. Der Film ist das Dokument einer teils heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Filmemacher und seinem glamourösen Protagonisten. Berger verweigert sich dem Ansinnen Horvaths, das zu dunkel bleibt, bietet sich ihm dafür sexuell an, was der Regisseur wiederum ausschlägt. Das Resultat ist die komisch-tragische Selbstentblößung eines Stars, der sich an Schattenbilder der Vergangenheit klammert und in Horvath keinen würdigen Partner sieht – wem mit diesem Einander-Verfehlen gedient ist, darüber lässt sich streiten. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 14.9.2015)