Selten in der jüngeren Geschichte Europas war die Rede eines EU-Kommissionspräsidenten mit so viel Spannung erwartet worden wie die Ansprache Jean-Claude Junckers vor dem EU-Parlament am Mittwoch in Straßburg. Seit Wochen hat sich die Asylkrise in Europa sichtlich zugespitzt, eine klare Reaktion der Union blieb aber aus.

In Straßburg stellte Juncker nun in einer teils sehr emotionalen Rede die Eckpunkte seines Antikrisenmechanismus vor:

  • Zentraler Punkt dabei ist die Aufteilung von 160.000 Asylsuchenden aus Italien, Griechenland und Ungarn auf andere Unionsländer. Die Idee baut auf einem Vorschlag der Kommission aus dem Frühjahr auf. Damals sollten allerdings nur Italien und Griechenland von der Umverteilung von 40.000 Menschen profitieren. Nun wird Ungarn größter Nutznießer der deutlich erweiterten Aktion vor Griechenland. 54.000 Asylwerber sollen Ungarn verlassen.
  • Aufgeteilt wird nach einem Quotenschlüssel, der Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und die Zahl der Asylverfahren in jedem Land berücksichtigt. Österreich müsste demnach 4853 Asylsuchende aufnehmen. Größtes Aufnahmeland wäre Deutschland.
  • Die Maßnahme würde aber auch den Druck auf Rom, Budapest und Athen erhöhen, alle ankommenden Asylsuchenden zu registrieren und ihre Fingerabdrücke abzunehmen. Die EU will nur registrierte Flüchtlinge umverteilen.
  • Großbritannien, Irland und Dänemark haben einen Vorbehalt in ihren EU-Verträgen, weshalb sie nicht am System teilnehmen müssen. Alle übrigen Länder sollen aber mitmachen. Wer keine Flüchtlinge aufnimmt, muss sich das von der Kommission genehmigen lassen und eine Strafzahlung (0,002 Prozent der Wirtschaftsleistung) aufbringen.

Innenminister entscheiden

Bereits kommenden Montag sollen sich die Innen- und Justizminister der EU auf den Vorschlag einigen. Das Parlament muss der Notmaßnahme nicht zustimmen.

Die große Frage ist, ob Juncker genügend Unterstützung der EU-Länder bekommen wird. Der erste verpflichtende Quotenvorschlag zugunsten Griechenlands und Italiens fand nicht genug Zustimmung. Besonders aus Osteuropa, aus der Slowakei, Tschechien und und Polen, kamen Widerstände. Allerdings können die Innen- und Justizminister mit qualifizierter Mehrheit das System beschließen. Große Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien sind dafür. Als Zünglein an der Waage gilt Polen, hieß es in Straßburg.

Allerdings gibt es an einigen Details auch Kritik von Expertenseite: Der EU-Migrationsforscher Philippe De Bruycker von der freien Universität in Brüssel meint etwa, dass es ein langwieriger und komplexer Prozess werden kann, Flüchtlinge für das Verteilungssystem auszusuchen. Verantwortlich für die Auswahl sind ja die ohnehin überlasteten Regierungen in Ungarn, Italien und Griechenland. Die EU will zwar assistieren, ist laut De Bruycker aber selbst ungenügend vorbereitet. Sein Beispiel: Das Unterstützungsbüro für Asylfragen der Union, EASO, das beim Auswahlverfahren helfen soll, hat gerade mal ein Jahresbudget von 15 Millionen Euro.

Hinzu kommt, dass unklar ist, wie die Flüchtlinge reagieren. Die Asylverfahren müssen in dem Land stattfinden, wohin sie geschickt werden. Da gibt es Unterschiede. In Schweden werden die meisten Asylsuchenden anerkannt, in Teilen Osteuropas kaum einer. Umverteilt werden nur Menschen aus Syrien, Irak und Eritrea.

Juncker will das Quotensystem künftig auch permanent etablieren. Die geltenden EU-Verordnungen, die sogenannten Dublin-Regeln, sollen ergänzt werden, um künftig das Quotensystem in allen Krisenfällen aktivieren zu können. Zudem schlägt er vor:

  • Die EU soll sich auf eine einheitliche Liste sicherer Drittstaaten einigen. Auf dieser soll neben allen Westbalkanländern (Serbien, Kosovo) auch die Türkei stehen. Staatsbürger aus einem Drittland können um Asyl in der EU ansuchen. Allerdings stehen ihre Chancen dabei schlecht. Derzeit hat jedes Land eine eigene Liste sicherer Drittstaaten. Für Wirbel dürfte der Fall der Türkei sorgen. Für Österreich ist das Land aktuell kein sicherer Drittstaat.
  • Juncker forderte auch, Asylsuchenden schon während ihrer Verfahren legale Arbeitsmöglichkeiten zu geben.

Er ermahnte alle EU-Länder zu mehr Solidarität. Jahrhundertelang sei Europa ein Kontinent gewesen, von dem Menschen fliehen mussten – der Kommissionschef spannte den Bogen von der Vertreibung der Hugenotten im 17. Jahrhundert aus Frankreich bis zur Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. "Wir Europäer sollten wissen und niemals vergessen, warum es so wichtig ist, Zuflucht zu bieten." Im Parlament bekam der Luxemburger von nahezu allen Fraktionen Zustimmung. Die Grünen-Abgeordnete Ulrike Lunacek sprach von einer guten Ansprache, ähnlich wie ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas. "Nun müssen die EU-Ländern liefern", so Karas. (András Szigetvari aus Straßburg, 9.9.2015)