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Der Pianist Paul Wittgenstein (1887-1961), im Bild zu sehen auf einer Aufnahme von 1927, verlor im Ersten Weltkrieg einen Arm. Diese Abweichung von der Norm wurde hochstilisiert – ein Phänomen, dem Künstler mit körperlichen Beeinträchtigungen bis heute ausgesetzt sind.

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Graz – Er war der tragische Held, den sich Musikkritiker seiner Zeit wünschten: Als einarmiger Kriegsinvalide tourte der Konzertpianist Paul Wittgenstein nach dem Ersten Weltkrieg durch ganz Europa.

In der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, die mehr denn je mit körperlicher Behinderung konfrontiert war, schlug die Narration des Pianisten Wellen: Man kann körperliche Beeinträchtigungen überwinden – wenn man nur genug Leistung erbringt.

"Darin kommt zum Ausdruck, welche Stereotype es über die Fähigkeiten beeinträchtigter Menschen in der Gesellschaft gibt", sagt Anna Benedikt von der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Die Musikwissenschafterin widmet ihre Dissertation körperbeeinträchtigten Musikerinnen und Musikern des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie beobachtet in Autobiografien, Interviews und Mediendarstellungen, wie Musiker abseits der körperlichen Norm auch heute noch um die Anerkennung ihrer künstlerischen Fähigkeiten kämpfen. Wenn sie doch als Künstler erfolgreich sind, wie damals Wittgenstein, wird ihr Abweichen als Sensation gehandelt und zur Marke hochstilisiert. Auch darin spiegelt sich die Werthaltung der Gesellschaft: Künstler ist man in der medialen Darstellung trotz Beeinträchtigung – nicht unabhängig davon.

"Jedes musikalische Genre unterliegt gewissen Normen und Konventionen. Der Bereich der klassischen Musik ist diesbezüglich besonders starr und gibt genau vor, wie, was und wo musiziert wird", sagt Benedikt. Wittgenstein gelang es neben seinem Talent auch durch seine Zahlungskraft, sich an die Anforderungen des klassischen Musikbetriebs anzupassen. Von großen Komponisten wie Richard Strauss oder Maurice Ravel ließ er sich eigens Stücke für die linke Hand schaffen.

Neue Wege statt Anpassung

Viele Musikschaffende begehen aber neue Wege, anstatt sich anzugleichen. In der Beschäftigung mit gehörlosen Musikern zeigt sich für die Musikwissenschafterin die ganzheitliche Natur von Klang: Die Perkussionistin Evelyn Glennie nimmt Ton über Vibration im Körper wahr – eine Eigenschaft, die trainierbar ist, aber bei Hörenden meist in den Hintergrund tritt. Die New Yorker Klangkünstlerin Christine Sun Kim macht in ihren Installationen Töne sichtbar und angreifbar. Bei beiden zeigt sich: Musik ist mehr als ein rein akustisches Signal, das über die Ohren geht.

Was ist normal, was wird als andersartig wahrgenommen? Und wie wiederholt sich diese Trennung in der Musik und im Musikbetrieb? Benedikt stellt als erste Musikwissenschafterin in Österreich Fragen aus dem Feld der sogenannten Disability Studies. Das interdisziplinäre Gebiet versteht Behinderung vordergründig als soziales Konstrukt, nicht als pathologisches Phänomen.

Im englischsprachigen Raum finden sich Disability Studies seit etwa dreißig Jahren an den Hochschulen. "In Österreich sind sie noch das Interesse Einzelner", sagt Sozialwissenschafterin Angela Wegscheider von der Johannes-Kepler-Universität Linz. Sie wirkte an einer Ringlehrveranstaltung der Universität Salzburg und der Universität Linz zum Thema Disability Studies mit und vernetzt mit der Internetplattform DiStA die versprengte österreichische Forschergemeinschaft.

Politische Akteure

In diesem Netzwerk befindet sich auch Eva Egermann von der Akademie der bildenden Künste Wien, die in ihrer künstlerischen Forschung die Betroffenen als Akteure mit einer politischen Stimme zeigt. Für Egermann steht fest, dass Disability Studies alle angeht: "Wir behandeln grundlegende und logische Fragestellungen, die gesellschaftliche Verhältnisse thematisieren und grundliegende Annahmen über Körper, Kultur und Gesellschaft infrage stellen."

Jeder kennt körperliche Begrenzungen, fast jeder erfährt spätestens im Alter eine Art von Beeinträchtigung am eigenen Leib. Diese grundmenschliche Erfahrung spiegelt sich auch in der Kunst wider: "Körperbehinderung, Krankheit, körperliche Phänomene waren schon immer Thema und Auseinandersetzung für etliche Künstler in der Kunstgeschichte, die nicht mit diesem Label identifiziert werden", sagt Egermann. Daher hält sie es für überkommen, Künstler mit Beeinträchtigung als besondere Gruppe darzustellen. Disability Studies müssten das Durchbrechen der Kategorien normal und andersartig leisten.

Genormter Körper

Das wachsende Feld der Disability Studies in Kunst und Musikwissenschaft zeigt in seiner Forschung, dass Behinderung kein Hindernis für künstlerisches und musikalisches Schaffen darstellt. Die Erschwernisse kommen tendenziell aus der Gesellschaft: Medien, die Künstler mit Beeinträchtigung als Spezialfall ausstellen, Institutionen und Bühnen, die sich am genormten Körper ausrichten.

Nun wünscht sich Wegscheider, dass Disability Studies über ihr eigenes Forschungsfeld hinauswachsen: "Es wäre schön, wenn auch Mediziner, Techniker oder Stadtplaner in diesem Gebiet forschen." (Marlis Stubenvoll, 11.9.2015)