Familien haben beim Filmfestival von Venedig dieses Jahr einen schlechten Stand. Sie sind nicht länger der sichere Hort, an dem sich die Wogen der Außenwelt wieder glätten – eine Funktion, die im Kino ohnehin meist einen schalen Beigeschmack hatte. Folgt man den Regisseuren von Filmen wie The Childhood of a Leader (Orizzonti) oder El Clan (Wettbewerb), haben sie sich sogar ins Gegenteil verkehrt. Statt Schutz und Wärme, Liebe und Geborgenheit zu gewähren, werden sie nun als jener Ort ausgewiesen, an dem das Böse überhaupt erst seinen Anfang nimmt.

Szenenbild aus "The Childhood of a Leader".
Foto: Agatha A. Nitecka

Der US-Amerikaner Brady Corbet, den man bisher nur als Schauspieler kannte, hat für sein ambitioniertes und stellenweise eindrucksvolles Debüt die Folie eines "period piece" gewählt. Der Erste Weltkrieg liegt in den letzten Zügen, eine Diplomatenfamilie bewohnt ein Landhaus in der französischen Provinz. Corbet wendet sich in seinem lose auf einer Kurzgeschichte Sartres basierenden Film deren jüngstem Mitglied, dem zwölfjährigen Prescott (Tom Sweet), zu. In drei als "Wutanfälle" gezeichneten Kapiteln nähern wir uns diesem so intelligenten wie aufmüpfigen Kind, das gegen das Regime der Eltern täglich mit mehr Eigensinn rebelliert. Die Mutter (Bérénice Bejo), eine Christin, bestraft den Buben mit strenger Disziplin, der Vater, ein US-Diplomat, der gerade die Friedensverträge verhandelt, ist selten zu Hause – und wenn doch, reagiert er ähnlich ungeduldig auf die Gemütslagen seines Sohnes.

Ähnlich wie Michael Hanekes Das weiße Band will auch The Childhood of a Leader veranschaulichen, wie ein auf sublime Gewalt basierendes Umfeld an der Herausbildung eines autoritären Charakters teilhat. Doch Corbet arbeitet bewusst manipulativer als der Österreicher, setzt stärker auf die Anmutung einer Bedrohung, die wie ein Unwetter aufzieht. Dem fulminanten Score von Scott Walker, der treibende Basslinien mit kreischenden Geigen kombiniert – und in Venedig sehr laut gespielt wurde –, kommt in der atmosphärischen Ummantelung des Films eine wesentliche Rolle zu. In Lol Crawleys düsteren, in Brauntönen gehaltenen Bildern verzerren sich analog dazu die Perspektiven, was das Geschehen wie in einem Horrorfilm entrückt.

"El Clan" von Pablo Trapero.
Foto: K&S FILMS

Der Argentinier Pablo Trapero geht in El Clan mit vergleichbarer Methodik vor. Er erzählt von einem mörderischen Familienoberhaupt, das nach dem Übergang seines Landes zur Demokratie, Anfang der 1980er, durch seinen Wahnsinn von sich reden machte. Den Clan der Puccios zeichnet Trapero von Anfang mit grotesker Schlagseite: Der Vater – ein großartiger Bösewicht: Guillermo Francello – gehörte zur alten Nomenklatura, nun entführt er, gedeckt von manch einem Politiker, Menschen aus wohlhabenden Familien, sperrt sie im eigenen Haus in den Keller und tötet sie selbst dann, wenn er Lösegeld erhält.

Ungewöhnlich an El Clan ist das Nebeneinander von Familienalltag, Coming-of-Age-Story und den an Gangsterfilme erinnernden Genresituationen, was Trapero nicht als Gegensätze filmt, sondern in einer dynamischen, peppigen Mischform: So vollzieht sich eine geplante Exekution hier etwa schon mal parallel zum Liebesakt des Sohnes im Auto. El Clan war in seinem Großmut in einem enttäuschenden Wettbewerb bisher einer der erfreulicheren Filme. (Dominik Kamalzadeh, 6.9.2015)