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Kern (hier bei ÖBB-Bilanzpressekonferenz 2014): "Orbán wollte ein Exempel statuieren, das ist ihm leider wohl auch gelungen."

Foto: APA / Schlager

STANDARD: Wie haben sich die letzten Stunden aus Ihrer Sicht dargestellt?
Kern:
Wir hatten sehr wenig Zeit für die Vorbereitungen. Gestern Nachmittag war es sowohl am Hauptbahnhof als auch am Westbahnhof sehr ruhig. Erst am Abend hat sich die Nachrichtenlage dramatisch zugespitzt. Freitagabend um 21 Uhr tagte dann der Krisenstab im Innenministerium. Wir haben danach rasch alles vorbereitet, und ich glaube, wir haben es bis jetzt ganz gut hingekriegt.

STANDARD: Wie war die Kooperation mit Ungarn?
Kern: Dürftig ist noch zu viel gesagt. Wir haben nur sehr spärliche Informationen erhalten, es war auch schwierig sich vorzubereiten, weil die Ungarn dreimal innerhalb weniger Stunden ihre Strategie änderten. Ich habe das Gefühl, der ungarische Premier Orbán wollte hier ein Exempel statuieren, und das ist ihm leider wohl auch gelungen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die momentane Stimmung auf den Bahnhöfen?
Kern: Meine Mitarbeiter leisten Enormes, darauf bin ich stolz. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist enorm, so etwas habe ich noch nie gesehen. Und ich möchte mich auch bei den NGOs, bei Caritas, Volkshilfe, Arbeitersamariterbund, Johannitern, Rotem Kreuz und allen anderen herzlich bedanken. Auch die Kooperation mit der Polizei klappt hervorragend. Ohne sie alle würden wir diese Herausforderung nicht bewältigen.

STANDARD: Wie geht es jetzt weiter?
Kern: Es ist mit dem heutigen Tag keinesfalls vorbei. Wir erwarten in den nächsten Tagen wieder tausende Flüchtlinge. Ich bin sicher, wir werden das gut bewältigen, aber wirklich abschätzbar ist die Situation nicht. Ich habe den Eindruck, dass alle Flüchtlinge in Ungarn auf den Beinen sind. Wir haben erfahren, dass die ungarische Staatsbahn wieder Fernzüge von Budapest-Keleti abfahren lassen will. Ich hoffe, es bleibt dabei. Es wäre das einzig Richtige: Nur so kann man die Situation einigermaßen sicher bewältigen.

STANDARD: Sieht man das auch in Deutschland so?
Kern: Auf jeden Fall. Ich habe vor kurzem mit dem deutschen Bahnchef Rüdiger Grube telefoniert und wir haben die fixe Zusage, dass Deutschland auch spätabends Züge ins Land fahren lassen und bei der Kontrolle der Tickets pragmatisch vorgehen wird. Das wichtigste ist jetzt, dass wir die Menschen nicht zusätzlich verunsichern, darüber waren wir einig.

STANDARD: Sie sagten kürzlich, nachdem die ersten Züge mit Flüchtlingen von Ungarn kamen, nicht alle ÖBB-Mitarbeiter seien sofort bereit gewesen, den Flüchtlingen zu helfen. Ist das immer noch so?
Kern: Naja, es gibt immer welche, die skeptisch sind. Aber die überragende Mehrheit der ÖBB-Mitarbeiter hat sofort erkannt, dass man hier nur das Notwendige und Vernünftige tun kann. Dies ist nicht die Zeit für Dienst nach Vorschrift, die Leute sind einfach da und machen. Ich meine das ganz ernst: Ich bin wahnsinnig stolz auf die österreichischen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner.

STANDARD: Stellen Sie auch wieder Quartiere zur Verfügung?
Kern: Ja, wir haben eben erst erhoben, wieviel Platz wir haben, und davon werden wir einiges anbieten. Es gibt überhaupt sehr viele frei stehende Gebäude in Österreich. An zu wenigen Plätzen kann die Lösung der Quartierfrage für Flüchtlinge nicht scheitern. (Petra Stuiber, 5.9.2015)