Etwas laut: Andris Nelsons dirigierte in Grafenegg.

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Grafenegg – Mit der Akustik ist das wie mit den menschlichen Temperamenten: Da gibt es ganz viele unterschiedliche. An Bayreuth, wo er 2016 den Parsifal dirigieren wird, schätzt Andris Nelsons etwa, dass er das Festspielorchester volle Kanne durch alle Ekstasen peitschen kann, und die Sänger, die hört man trotzdem. Der verdeckte Orchestergraben macht’s möglich: Er domestiziert den Orchesterklang. In Grafenegg ist alles genau umgekehrt. Beim Wolkenturm ist alles offen, einzig der Himmel begrenzt den Orchesterklang nach oben. Und trotzdem ist es irrsinnig laut: Das Orchester sitzt in einem halben Kokon aus Glas und Beton, und der knallt allen Schall mehrfach potenziert Richtung Publikum.

Man kann sich keine Vorstellung davon machen, wie laut Mahlers 6. Symphonie mit dem Boston Symphony Orchestra und Nelsons in der zehnten Reihe Mitte im Wolkenturm war. Es ist angenehmer, bei einem Clubbing direkt vor einer Box zu sitzen, es ist angenehmer, sich von einem Ausbildungsoffizier beim Bundesheer aus einem halben Meter Entfernung anschreien zu lassen.

Zudem überwölbten die Blechbläser den Orchesterklang auf ähnlich dominante, kantige Art wie der Wolkenturm das Konzertpodium. Wenn die direkt an der Rückwand platzierten Bläser – Trompeten, Posaunen und Tuba – loslegten, hörte man sowieso nur noch die. Wenn überlaute akustische Verhältnisse und ein überdurchschnittlich enthusiastischer Dirigent zusammenkommen, kann es passieren, dass ein komplexes Meisterwerk zu Marktschreierei mutiert. Bei Mahlers Sechster wähnte man sich auf einem Besuch im Wurstelprater, an jedem Eck blinkte, trötete und tutete es grell.

Die von den Salzburger Festspielen anreisenden Musiker von der US-amerikanischen Ostküste arbeiteten auf ihrer Europa-Tournee, der ersten seit acht Jahren, präzise; erstaunlich aber doch, auf welche nüchterne, maschinelle, hölzerne Art speziell die Streicher musizierten. Der Enthusiasmusgrad ähnelte dem von unterbezahlten Bürokräften. Akkordarbeit statt inspiriertes, engagiertes, seelenvolles Musizieren. Seltsam, dass sich der 36-jährige Lette, dem doch zur Zeit alle Klangkörper zu Füßen liegen, gerade dieses Orchester für eine Chefdirigentenposition ausgesucht hat.

Die finale Begeisterung des Publikums wäre eine ungeteilte gewesen, hätten vorher statt der Decken Ohrenstöpsel erworben werden können. (Stefan Ender, 28.8.2015)