So wie einst ihr Vater und ihr Onkel die erste Disco und das erste Gleitboot nach Sutivan bringen, bringt die schöne, rothaarige Maria-Chiara Kulinarik nach Sutivan.

Foto: Bogumil Balkansky

Nun, zwanzig Jahre nach dem Krieg, ist "Triton" wieder am Kai von Sutivan festgemacht. Danke Jere!

Foto: Bogumil Balkansky

Es ist ein Wort aus dem Dialekt Dalmatiens, das zu meinen Lieblingsausdrücken dieser Mundart gehört: Bokun bedeutet so viel wie ein wenig, ein bisschen, ein Stückchen. Und bokuncin ist die Verkleinerungsform davon. Dass die Bewohner Dalmatiens selbst für ein Diminutiv noch eine Verkleinerung kennen, mag an der Mühe liegen, der es bedarf, um im Karst das Wenige zu ernten, was seine Kargheit wachsen lässt. Aber es gibt auch andere Wege, sein Brot zu erwerben.

Am Anfang ist die Zither

Diese Familie trägt den Kollektiven Spitznamen "kravica", was so viel – oder so wenig – heißt wie kleine Kuh. Wie man zu diesem Namen kommt, werde ich irgendwann herausfinden. Gewissheit habe ich nur, dass im Haus der Familie auch ein größerer Stall aus dem 18. Jahrhundert ist. Allerdings leben hier keine Nutztiere mehr, als Matko und Vanja "Kravica" beschließen, aus dem Stall die erste Disco in Sutivan zu machen. Wir schreiben das Jahr 1970.

Man überlegt lange, welchen Namen die Disco tragen soll. Kurz, auch von Deutschen auszusprechen und mit Musik zu tun habend soll der Name sein. Warum genau es dann "Citra" – Zither – wird, kann mir weder Matko noch Vanja sagen. Weil sie inzwischen alte Männer sind, die so manches leicht vergessen. Ich jedenfalls vergesse nicht, dass es ein heißer Sommertag ist, als Matko und Vanja zu meinem Opa Djuro kommen, um seine alte Zither zu kaufen, damit sie bis in die 90er über der Bar der Disco Citra hängt.

Die Welt ist eine Discokugel

Als mich die Hormone schütteln, wird die Citra zum Mittelpunkt meiner Sommernächte. Zusammen mit so gut wie allen anderen 15-Jährigen, die in Sutivan sind, lasse ich mich vom Glitzern der Discokugel in den epileptischen Anfall ziehen, der die damalige Spaßbewegungsform zu Disco-Rock-Pop ist. DJ Tuta, ein Cousin der Kravica-Brüder, sorgt dafür, dass der Anfall bis zum Morgengrauen anhält. Später ist Tuta der Musikdirektor von Radio Brač und rockt halb Dalmatien.

Was damals zu jeder Disco gehört – Neonröhren mit "UV-Licht" und Wandfarbe aus Chemikalien, die unter diesem Licht leuchten –, hat auch die Citra. Mein Lieblingsmotiv ist ein psychedelischer Fisch an der langen Wand, aus der noch die Eisenringe hängen, die einst Maultiere, Kühe und Esel am Weglaufen hindern. Unter dem Fisch kann ich fast die ganze Disco überblicken, kann Tuta beim Arbeiten zusehen und, erst nur ganz selten und später immer öfter, mit einem Mädchen schmusen.

Ein anderer Cousin der Kravica-Brüder ist Igor. Er ist der Barmann der Citra. Weil es leichter ist, uns Kids mit Cola-Rum zu bedienen, bis wir am Klo kotzen, als selbst im Maschinenraum eines Frachters für Schüttgut im Nordatlantik zu kotzen. Wir lieben Igor. Wir verehren Tuta. Wir sind Matko und Vanja so dankbar, dass sie einen überdachten Ort für unser Jungsein schaffen, in dem es laute Musik und Alkohol für alle gibt.

35 Knoten bei Windstille

Es dauert nicht lange, bis Matko und Vanja vor der Entscheidung stehen, teure deutsche Autos zu kaufen oder ein starkes, schnelles Gleitboot. Also beschließen sie, keines der beiden Fahrzeuge zu kaufen. Sondern Cousin Jere anzurufen.

Jere arbeitet in einer Fabrik für die Erzeugung von Plastikbehältern für Milch im Tetrapack. Und Jere ist ein Freund des Direktors der Fabrik. Der Direktor bestellt aus Italien eine Gussform für das zukünftige Schnellboot. Die Gussform wird mit einem Lkw der Fabrik nach Sutivan geliefert, wo Matko und Vanja das erste Gleitboot von Sutivan bauen. Und weil die Form noch gut ist, baut auch Cousin Jere ein identisches Boot für sich.

Beide Boote sind hochbordig und bestens für die Kreuzwellen zugeschnitten, die den Kanal von Brač plagen. Beide Boote sind weiß und haben ein rotes Deck. Die Motoren kommen aus Schweden. Von einer Firma, die angeblich die crashsichersten Autos der Welt baut. Zumindest der Produktname der Bootsmotoren dieser Firma ist in Dalmatien allgegenwärtig. Weil hier jeder, der einen Bootsmotor meint, einfach nur "Penta" sagt. Die beiden Boote bekommen auch Namen. Jeres Boot heißt "Triton". Matko und Vanja nennen ihr Boot "Citra".

Odyssee nach Sutivan

Wie es zu jeder Zeit in aller Welt geschieht, kommen auch karge Tage zu den Brüdern. Im Krieg tanzen unter dem psychedelischen Fisch an der langen Wand "Ballerinas" aus der Ukraine in der Citra. Angehörige der Militärpolizei besaufen sich in Uniform und reden laut darüber, welchen "Tanz" sie mit den "Ballerinas" am liebsten tanzen würden. Der DJ spielt bis zu zwanzig Mal "Bojna Čavoglave" von Thompson. Die inoffizielle Hymne des Kroatienkriegs. Ich besaufe mich alleine in einer dunklen Ecke. Ganz nah am Klo. Falls ich kotzen muss.

Auch "Triton" und "Citra" ankern nicht mehr in Sutivan. Beide Boote werden verkauft, und ihre Spur verliert sich in den Wellen der Halbinsel Pelješac. Jere geht dem Schicksal der Boote nach, findet die "Triton" leicht beschädigt auf Pelješac und erkennt, dass die "Citra" längst ein Opfer von Vernachlässigung geworden ist, um anschließend als Versicherungsfall in der Adria zu verschwinden. Nun, zwanzig Jahre nach dem Krieg, ist die "Triton" wieder am Kai von Sutivan festgemacht. Danke, Jere!

Das Bokuncin

Diesen Namen gibt die Tochter von Matko ihrem Restaurant. Und das Bokuncin ist etwas ganz und gar Besonderes. So wie einst ihr Vater und ihr Onkel die erste Disco und das erste Gleitboot nach Sutivan bringen, bringt die schöne rothaarige Maria-Chiara Kulinarik nach Sutivan. Sie besucht eine berühmte italienische Gastronomieschule und beschließt, dass es Zeit ist, in Sutivan etwas anderes als das ewige Touristenmenü aus Scampi, Grillfisch und Ćepavćići zu essen zu bekommen.

Das Menü im Bokuncin ist karg. Wie Brač. Es gibt nur wenige Speisen, Weine, Desserts und Schnäpse auf der Karte. Der Oktopussalat kommt auf einem Holzbrett und liegt in einem Nest aus Parmesan. Den Käsekuchen löffelt man aus einem kleinen Einmachglas mit rotem Deckel. Das Lamm ist von Ciko, dem Farmer von Sutivan, der Olivenschnaps, der Limoncello und der Nusslikör zum Verdauen sind von Tante Etica, die ihre Schnäpse und Liköre in der Kühle der ehemaligen Disco lagert, bis sie gut genug für das Bokuncin sind. Und hinter dem Herd steht Maria-Chiara selbst. Jeden Tag.

Wenn ich vor dem Bokuncin nach dem Käsekuchen den Olivenschnaps trinke und einen Joint rauche, will ich glauben, dass Tante Etica ihre Flaschen genau unter dem psychedelischen Fisch in der Citra stapelt.

Geschrieben im August 2015 im Bokuncin. (Bogumil Balkansky, 28.8.2015)