Es bedarf eines Verbrechens wie der Zerstörung des Baaltempels in Palmyra, damit die Augen der Öffentlichkeit wieder einmal auf die Kriegsgeschehnisse in Syrien gelenkt werden. Wenigstens in diesen Momenten begreifen die fernen Beobachter, dass in Syrien die gesamte Menschheit getroffen wird. Schrecken, Trauer und grenzenlose Wut über die "Sinnlosigkeit": Gerade heute muss man sich jedoch vor dem schlampigen Denken hüten, das die gleichzeitige Vernichtung von Menschenleben, durch den "Islamischen Staat", aber auch durch das Assad-Regime, quasi als unvermeidlich akzeptiert. Und wen Flüchtlinge kaltlassen, der verwirkt sich das moralische Recht, über die Zerstörung von Kulturgütern empört zu sein.

Es war ein langes, angsterfülltes Warten seit der Eroberung von Palmyra im Mai: Die Hoffnung bestand, dass der strategische Wert der Stadt Tadmur, wie sie heute heißt, das ganze Interesse des IS binden könnte. Im Sommer wurde bereits vereinzelt "Der IS verschont Palmyra" gemeldet. Aber inzwischen weiß man, dass die unterschiedlichsten unvorhersagbaren Dynamiken das Vorgehen der Miliz, oder auch nur der lokalen Führung derselben, steuern. Auch im irakischen Mossul kamen die großen Zerstörungen zum Teil Monate nach der Einnahme.

Darüber, wie der IS funktioniert, warum er wann was macht, weiß man noch immer reichlich wenig. Es sind äußere Faktoren wie militärischer Druck oder etwa das Greifen von Maßnahmen zur Finanzierungsbeschneidung – dazu gehört auch der Versuch, den illegalen Antikenhandel abzustellen –, aber auch innere Dynamiken. Sie sind nur schwer auszumachen, etwa, ob ein Hochfahren des Terrors "rational" eingesetzt wird, wenn sich in der Bevölkerung so etwas wie Widerstand regt – oder wenn eine Person nicht zu brechen ist. Das schreckliche Ende des bejahrten ehemaligen Antikendirektors Palmyras, Khalid al-Assaad, der nicht nur enthauptet, sondern dessen Körper zerstückelt wurde, könnte in diesen Kontext gehören.

Vielleicht reagiert der IS in Syrien auch darauf, dass sich erstmals seit beinahe zwei Jahren so etwas wie eine internationale Syrien-Diplomatie abzeichnet, deren eigentlicher Zweck nicht mehr der rasche Abgang des Assad-Regimes, sondern eine Front gegen den IS ist. Der "Islamische Staat" ist zwar momentan nicht auf Expansionskurs, aber er hält seine Gebiete – und er will bei einer Neuordnung Syriens dabei sein. (Gudrun Harrer, 24.8.2015)