Bild nicht mehr verfügbar.

Demonstration für die Rechte von Sexarbeiterinnen in Kalkutta. Amnesty International hat kürzlich seine politische Linie zur Prostitution beschlossen.

Foto: Reuters/ RUPAK DE CHOWDHURI

Mit dem Entschluss, sich künftig weltweit für die Entkriminalisierung von Prostitution einzusetzen, hat Amnesty International die kontroverse Debatte um Prostitution erneut angeheizt. SexarbeiterInnen befänden sich überall auf der Welt in ständiger Gefahr, Opfer von Diskriminierung, Gewalt und Missbrauch zu werden, so der Befund der Menschenrechtsorganisation. Amnesty zählt sie somit zu den schutzbedürftigsten Gruppen der Gesellschaft. "Jetzt hat unsere weltweite Bewegung den Weg für eine Position unserer Organisation zum Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern geebnet", sagte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty.

Bei der Entscheidung, die auf der internationalen Ratstagung in Dublin gefasst wurde, handelt es sich erst um eine Resolution – der Vorstand ist somit mit der Entwicklung einer politischen Position beauftragt. Der Abstimmung am 11. August ging ein zweijähriger Diskussionsprozess voraus: Amnesty konsultierte zahlreiche NGOs und Behörden und führte auch selbst eine Untersuchung durch, die die Befragung von SexarbeiterInnen beinhaltete.

Frauenrechtsorganisationen kritisieren Amnesty

Begleitet wurde dieser Prozess auch von harscher Kritik – insbesondere Frauenrechtsorganisationen, deren Ziel die Abschaffung der Prostitution ist, protestierten gegen die Pläne von Amnesty International. Bereits im vergangenen Jahr war ein internes Strategiepapier an die Öffentlichkeit gelangt; im "Guardian" berichtete die britische Journalistin Julie Bindel, Amnesty hätte keine Organisationen angehört, die Prostitution kritisch gegenüberstehen – die Entscheidung wäre somit schon vorab festgestanden.

Ziel: Versachlichung der Debatte

Stella Jegher, die für die Schweizer Amnesty-Sektion im Bereich Media-Lobbying arbeitet und bei der Ratstagung in Dublin vor Ort war, schildert ihr Erleben gegenüber dem STANDARD völlig anders: "Es war eine sehr sachliche und qualitativ hochwertige Diskussion. Ich bin selbst seit über dreißig Jahren in der feministischen Bewegung aktiv und kenne die Kontroversen um Sexarbeit sehr gut. Die Diskussion wurde unter dem Menschenrechtsaspekt geführt – und nicht unter ideologischen Vorzeichen."

Selbsterklärtes Ziel der NGO ist es, die emotional aufgeladene Debatte um Sexarbeit zu versachlichen und die Menschenrechte in den Vordergrund zu stellen. Überall dort, wo Sexarbeit verboten ist, gebe es deutlich mehr Gewalt gegen SexarbeiterInnen als anderswo – so das Ergebnis ihrer Recherchen. Sie würden in die Illegalität gedrängt und könnten sich daher auch nicht gegen Menschenrechtsverletzungen wehren.

Staraufgebot gegen Amnesty

Gegen diesen Befund stellte sich unter anderem die "Coalition Against Trafficking in Women", den Protestbrief der Organisation unterzeichneten zahlreiche Hollywood-Stars wie Meryl Streep, Kate Winslet und Lena Dunham. "Für alle, die um eine Klarstellung gebeten haben: Ich unterstütze die Entkriminalisierung jener, die Sex verkaufen. Nicht die jener, die von anderen profitieren", postete Dunham auf Twitter.

Weniger zurückhaltend formulierte es Alice Schwarzers "Emma", bekannt für ihre Kampagnen gegen die Prostitution: "Amnesty pro Frauenhändler!" und "Amnesty will Zuhälter schützen!" wird auf der Website des deutschen Magazins getitelt. Der Ruf der international angesehen Menschenrechtsorganisation sei nachhaltig beschädigt worden – so der Tenor der KritikerInnen.

Auch für Susanne Riegler, Mitbegründerin der Wiener Initiative "Stopp Sexkauf", hat Amnesty im Bereich der Frauenrechte seine Glaubwürdigkeit verloren. Den Begriff der Sexarbeit lehnt die Journalistin ebenso ab wie eine Legalisierung von Prostitution. "Amnesty International scheut die inhaltliche Diskussion und hat kapituliert: Prostitution gibt es, die Nachfrage gibt es, das selbstverständliche Recht von Männern, Frauen sexuell zu gebrauchen, wird nicht hinterfragt." Prostitution als legitimes Arbeitsfeld zu etablieren sei eine "neoliberale Disziplinierung" von Frauen, nur noch Gesetze könnten dieser Entwicklung gegensteuern, glaubt Riegler.

Das schwedische Modell

Katharina Beclin, Assistenzprofessorin am Institut für Strafrecht der Universität Wien, ist hingegen so wie Amnesty von der Notwendigkeit einer Entkriminalisierung überzeugt: "Es ist egal, ob ich den Kauf oder den Verkauf verbiete, das läuft letztendlich insofern auf dasselbe hinaus, als das Geschäft in den Untergrund gedrängt wird und Prostituierte zögern, sich im Falle von Übergriffen an die Polizei zu wenden."

Das sogenannte "schwedische Modell" der Freierbestrafung, das mittlerweile in zahlreichen Staaten zur Debatte steht, dränge Sexarbeiterinnen somit in besonders ausbeutungsgefährdete Strukturen. "Staatliche Versuche, die Sexualität zu regulieren, sind nicht nur an sich bereits grundrechtswidrig, sondern fördern darüber hinaus ausschließlich mafiöse Strukturen", so formuliert es auch das Wiener Bündnis Sexworker-Forum, deren Mitglieder die erniedrigende Behandlung von Frauen in der Sexarbeit durch staatliche Organe kritisieren – etwa bei den in Österreich nach wie vor aufrechten Zwangsuntersuchungen.

Amnesty verteidigt Positionierung

Die konkrete Entwicklung der Amnesty-Policy wird beim nächsten Treffen des internationalen Vorstands im Oktober fortgeführt. In Ländern wie Schweden bereitet sich die NGO auf eine Austrittswelle vor. "Es gibt auf jeden Fall Druck auf unsere Organisation. Hier bin ich aber stolz auf Amnesty, dass wir nicht aus Bequemlichkeit eine Position einnehmen, die wir nicht vertreten können", sagt Stella Jegher.

Die klare Positionierung zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Kinderprostitution würde in der aufgeheizten Debatte unter den Tisch fallen, ebenso schreibt Amnesty im Resolutionspapier, es müssten wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass niemand gezwungen ist, in der Sexarbeit tätig zu sein. Besonders betroffen sind hier etwa Transpersonen, die in einigen Staaten vom regulären Arbeitsmarkt de facto ausgeschlossen sind.

Einen effektiven Schutz vor Ausbeutung in sämtlichen Arbeitsverhältnissen könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen bieten, meint Juristin Katharina Beclin. In diesem Punkt gibt es eine vorsichtige Annäherung an die ProstitutionsgegnerInnen: "Es kann natürlich nicht sein, dass Prostitution verboten wird und diese Frauen dann vor dem Nichts stehen. Der Staat müsste hier Geld in die Hand nehmen – es braucht soziale Absicherung", sagt Riegler.

Ideologische Gräben

In grundsätzlichen Fragen stehen sich die verschiedenen Lager innerhalb der feministischen Bewegung jedoch seit Jahrzehnten unversöhnlich gegenüber. Die Dominanz von Männern gegenüber Frauen werde weiterbestehen, solange es "selbstverständlich ist, dass die Sexualität von Frauen jederzeit verfügbar ist", davon sind Riegler und ihre MitstreiterInnen überzeugt.

Dass Sexarbeit zwangsweise Frauenverachtung befördere, weist Beclin strikt zurück. Männer, die frauenfeindlich agieren, würden sich stets das schwächste Glied in der Gesellschaft suchen – ob das nun die finanziell von ihnen abhängige Ehefrau oder die Sexarbeiterin sei. In dem Alter, in dem sie mit Prostitution in Berührung kommen, hätten sich solche Fehlentwicklungen zudem längst manifestiert. "Wir müssen vielmehr darauf hinarbeiten, dass unsere Gesellschaft insgesamt gewaltfrei wird", so Beclin. (Brigitte Theissl, 23.8.2015)