"Wartet nicht auf Francisco ...": Vorder- und ...

Foto: KZ-Gedenkstätte Mauthausen

... Rückseite einer der Postkarten, die Bautista Valsells 1943 aus Mauthausen an seine Mutter und die Geschwister nach Calaceite geschickt hat. Erlaubt waren "nicht mehr als 25 Worte und nur persönliche Familiennachrichten". Der Inhalt wurde sowohl von der Lagerkommandantur als auch von der staatspolizeilichen Zensurstelle in Barcelona kontrolliert. In einer früheren Karte vom Juli – bis Februar 1943 war es den Insassen untersagt, an ihre Angehörigen zu schreiben – hatte er der Familie verschlüsselt die Nachricht über den Tod seines Vaters 1941 im Lager Gusen zukommen lassen.

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Francisco Valsells, der 1941 im Lager Gusen, in das er mit Bautista deportiert wurde, starb.

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Kein Wort über die qualvollen Jahre: Bautista Valsells, der 1946 bei einem Unfall starb.

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Unter den 927 spanischen Flüchtlingen, die am Vormittag des 20. August 1940 von deutschen Soldaten und französischen Gendarmen aus dem Lager Les Alliers zum Bahnhof von Angoulême eskortiert wurden, befand sich eine sechsköpfige Familie aus der aragonesischen Kleinstadt Calaceite: das Ehepaar Francisco Valsells Bielsa und Leoncia Casasús García sowie seine Kinder Bautista, Pilar, Dominga und Joaquín. Kurz vor der Eroberung der Ortschaft durch Franco-Truppen, am 1. April 1938, waren sie aus Calaceite nach Katalonien geflüchtet und dann, als auch Barcelona nicht mehr zu halten war, zur französischen Grenze, wo sie, wie Hunderttausende ihrer Landsleute, im Freien lagerten, ehe die Behörden des Nachbarlandes sich am 28. Jänner 1939 endlich bequemten, die Flüchtlinge ins Land zu lassen.

Nach dem Grenzübertritt wurde die Familie Valsells Casasús von der Garde mobile aufgegriffen und in eines der primitiven Sandstrandlager – Saint-Cyprien, Argelés oder Barcarés – gepfercht, tags darauf getrennt: Während Francisco mit dem älteren Sohn Bautista im Lager bleiben musste, wurden die Mutter und die anderen Kinder nach Cognac überstellt. Dort fanden sie Arbeit auf einem nahegelegenen Gut, Leoncia als Näherin, die Töchter als Erntehelferinnen, und sogar Joaquín verdiente mit dem Verkauf selbstgefangener Schnecken ein paar Francs.

Ende 1939 war die Familie, im damals erst halbfertigen Lager Les Alliers, wieder vereint, was ihr trotz der prekären Lebensumstände kein geringer Trost gewesen sein mag. Noch ahnte sie nicht, dass die Wehrmacht ein halbes Jahr später Angoulême kampflos besetzen würde.

Raus! Schnell!

Es war eine richtige Entscheidung der Eltern gewesen, Calaceite beizeiten zu verlassen; als ehemaliger Stadtverordneter der Republikanischen Linken wäre Francisco sofort erschossen oder erschlagen worden, und auch Bautista hätte, obwohl er damals erst 15 war, als Mitglied der Vereinigten Sozialistischen Jugend um sein Leben fürchten müssen.

In Angoulême wurden die Flüchtlinge in zwanzig Viehwagen verfrachtet. Kurz nach vier Uhr nachmittags setzte sich der Zug mit unbekanntem Ziel in Bewegung. Die Hoffnung, sie würden in den unbesetzten Süden Frankreichs gebracht werden, zerschlug sich bald. Durch Ritzen zwischen den Wagenbrettern konnten die Deportierten anhand des Sonnenstands und der Bahnhofsschilder erkennen, dass die Fahrt nach Osten ging, langsam und mit stundenlangen Aufenthalten auf freier Strecke.

Nur einmal, schon in Deutschland, wurden sie verköstigt und konnten, um ihre Notdurft zu verrichten, für einige Stunden die Waggons verlassen. Es verwunderte sie, dass ihnen der Stationsvorsteher durch den Lautsprecher vor der Weiterfahrt "viel Glück und Freiheit" wünschte.

Am frühen Morgen des fünften Tages hielt der Zug in Mauthausen, einer Ortschaft, von der sie nie zuvor gehört hatten. Vorerst tat sich nichts, als dass die Türen entriegelt und ihnen von Häftlingen eine Wassersuppe vorgesetzt wurde, in der rohe Rüben und Kartoffeln schwammen. Offenbar war die Lagerleitung nicht davon unterrichtet worden, dass sich auch Frauen und Kinder in dem Transport befanden.

Dringliche Telefongespräche hat man sich vorzustellen, von der Kommandantur Mauthausen ins Reichssicherheitshauptamt Berlin, von Berlin nach Madrid und zurück, Konsultationen des deutschen Botschafters Von Stohrer mit dem spanischen Außenminister Serrano Suñer. Dann stiegen SS-Männer in die Wagen und scheuchten alle Männer, auch Greise, Kriegsversehrte und Halbwüchsige, die ihnen schon arbeitsfähig erschienen, hinaus auf den Bahnsteig.

"Raus!", das erste deutsche Wort, das die Spanier lernten. "Schnell!" Das war das zweite Wort. Und das dritte und vierte: "Wie alt?" Die Frauen schrien, klammerten sich an ihre Söhne oder versuchten den Uniformierten auf Spanisch und mit den Fingern klarzumachen, dass sie erst elf oder zwölf Jahre alt seien. Francisco und Bautista Valsells verschwanden im Tumult aus Schlägen und Geschrei. Sicher konnten sie sich nicht einmal von der Familie verabschieden, und Leoncias ganze Aufmerksamkeit galt dem dreizehnjährigen Joaquín, dem ebenfalls befohlen worden war, den Wagen zu verlassen. Nachdem ein Zivilist ihn, wie die anderen Minderjährigen, in einem Verschlag mit einem Wasserschlauch abgespritzt hatte, wartete er nicht auf den Abtransport ins Lager, sondern kletterte in einem unbeobachteten Moment zurück in den Waggon. Seine Mutter warf eine Decke über ihn, und seine Schwestern setzten sich so, dass er von draußen nicht zu sehen war.

Nach einer letzten Kontrolle, ob ihnen auch wirklich niemand entgangen war, ließen die SS-Männer die Türen verriegeln. Gleich darauf ruckte der Zug an. Mehr als sechzig Jahre später sollte sich Joaquín Valsells, im Gespräch mit den katalanischen Dokumentarfilmern Montse Armengou und Ricard Belis (El convoi de los 927, 2005), an dieses Erlebnis erinnern. Noch im Unwissen darum, was Mauthausen bedeutete, habe er gleich befürchtet, seinen Vater nie wiederzusehen. "Er war ein Mensch, der immer gut gelebt hat und es nicht gewohnt war, Strapazen zu ertragen."

Blind, taub und stumm

Die Irrfahrt der in den Waggons verbliebenen Frauen und Kinder dauerte mehrere Tage und verlief im Zickzack – zuerst ging es in den Norden, wo ihnen bei einem Halt nahe Berlin (Fürstenberg vermutlich) ausgezehrte Gestalten in Häftlingskitteln auffielen, dann westwärts durch Lothringen und Elsass zurück nach Angoulême und weiter südlich bis an die spanische Grenze.

Am 1. September 1940 wurden sie in Irún von den spanischen Behörden registriert und verhört, anschließend in ihre Heimatgemeinden geschickt. Nach Asturien, nach Andalusien, nach Murcia, nach Katalonien, nach Aragón ... Dort fallweise wieder verhört und eingesperrt.

Leoncia und ihre Kinder waren in Spanien noch zehn Tage unterwegs. Die letzten zwölf Kilometer bis Calaceite, von der nächstgelegenen Bahnstation Valle del Tormo aus, legten sie gemeinsam mit den anderen repatriierten Frauen aus der Ortschaft zu Fuß zurück. Im Morgengrauen trafen sie ein. Das Tor war versperrt, das Wohnhaus, wie auch die Ölmühle, die Olivenhaine und die Getreidefelder der Familie, konfisziert. Sie kamen bei Leoncias Schwester unter, lebten fortan wie Aussätzige, erzählten keinem, was sie erlebt und erfahren hatten.

Nachts, das wusste man, wurden immer noch Nachbarn von Guardias oder Falangisten gefasst und außerhalb der Stadt erschossen. "Hier waren wir alle blind, taub und stumm", hat Joaquín zu den beiden Filmemachern gesagt. "Darüber darf man nicht sprechen, über das auch nicht ... Einmal wurde ich wegen Gotteslästerung angezeigt, weil ich beim Dreschen über das Maultier geflucht hatte. Und es gab Sonntage, an denen mich die Guardia Civil von zu Hause abholte und mich zwang, zur Messe zu gehen. Außerdem waren wir mehr als zwei Jahre lang ohne Nachricht von meinem Vater und meinem Bruder. Wen hätten wir fragen sollen? Wie hätten wir etwas erfahren können?"

Tatsächlich war es den spanischen Häftlingen in Mauthausen bis Februar 1943 untersagt, ihren Angehörigen zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt war Francisco Valsells, wie Joaquín schon befürchtet hatte, nicht mehr am Leben. Vater und Sohn waren im Jänner 1941 in das Lager Gusen überstellt worden, wo Francisco mit 54 Jahren an Erschöpfung, an Krankheit, durch eine Benzininjektion, unter den Schlägen eines Kapos oder unter den Fußtritten eines SS-Mannes starb. Bautista wurde Anfang 1942 mit vierzig anderen spanischen Jugendlichen in ein Steinmetzkommando versetzt, das für die Firma Poschacher Zwangsarbeit leistete.

Sie waren bei den erwachsenen Häftlingen nicht nur deshalb beliebt, weil sie ihre bevorzugte Stellung zum Schmuggeln von Lebensmitteln und Nachrichten nützten, sondern weil sie fröhlich, hilfsbereit und aufsässig waren. In seinen nachgelassenen Erinnerungen (De Calaceite a Mauthausen, 2006) schreibt der ehemalige Bürgermeister von Calaceite, Raimundo Suñer Aguas, dass sie sich geschlossen der Anordnung des Unternehmers widersetzten, die Loren im Laufschritt zu beladen.

25 Worte

Außerdem nahmen sie das Risiko auf sich, Negative der Lageraufnahmen, die ihr Landsmann Francisco Boix im Erkennungsdienst entwendet hatte, in ihren Schuhen versteckt nach draußen zu bringen. Eine Frau aus der Ortschaft, Anna Pointner, unterstützte sie nach Kräften und versteckte das Fotomaterial in ihrem Garten.

Unter den Dokumenten, die Joaquín Valsells über Vermittlung des Historikers Benito Bermejo dem Archiv der Gedenkstätte KZ Mauthausen überlassen hat, sind elf Postkarten, die sein Bruder zwischen dem 24. Februar 1943 und dem 28. Mai 1944 nach Calaceite geschickt hat. Erlaubt waren "nicht mehr als 25 Worte, nur persönliche Familiennachrichten", und der Inhalt wurde sowohl von der Lagerkommandantur als auch von der staatspolizeilichen Zensurstelle in Barcelona kontrolliert.

Das galt auch für die Briefe, die ihm seine Mutter geschrieben hatte. Immerhin durfte sie zweimal ein Foto beilegen, was ihn am meisten freute, und familiäre Ereignisse erwähnen: die Heirat der einen, dann der anderen Schwester. Bautistas Frage, wer denn die Schwager seien. Seine Verblüffung, dass er Joaquín auf einem Foto nicht erkannt habe. Die vorsichtig angedeutete Not der Familie, die er bekümmert zur Kenntnis nahm. Und immer wieder die Floskel, die nicht fehlen durfte: "Ich bin wohlauf, wie geht es euch."

Die erste Nachricht über den Verbleib von Mann und Sohn hatte Leoncia durch ein Schreiben der Konsulatsabteilung der Deutschen Botschaft in Madrid vom 8. September 1941 erhalten: Beide Schutzhäftlinge "erfreuen sich bester Gesundheit". Die grausame Lüge wurde von Bautista erst zwei Jahre später, zwischen den Zeilen, berichtigt. Am 10. Juli 1943 schrieb er: "Seit 9. Oktober 1941 bin ich allein, macht euch um mich keine Sorgen."

Und am 13. November 1943: "Wartet nicht auf Francisco." So kennen wir zwar den Todestag seines Vaters, nicht aber die genauen Todesumstände, weil Bautista die Befreiung des Konzentrationslagers nur um ein Jahr überlebt hat: Er starb 1946 in der französischen Kleinstadt Fumel, Départment Lot-et-Garonne, bei Rangierarbeiten auf dem Gelände des Hüttenwerks von Périgord. Augenzeugenberichten zufolge klemmte er sich einen Fuß in einer Schiene oder Weiche ein, konnte sich nicht rechtzeitig befreien und wurde von einem Zug erfasst. Seine Mutter und seine Geschwister hat Bautista nie wiedergesehen.

Außer den Lagerpostkarten ist nur ein Brief von ihm erhalten geblieben, den er seinem Bruder im August 1945 – zwei Monate nach der Rückkehr aus Mauthausen – aus Frankreich geschrieben hatte. "Unvergessener und geliebter Bruder!" Kein Wort über die qualvollen Jahre, die hinter ihm lagen, stattdessen die Bekräftigung seines Willens, die versäumte Jugend nachzuholen, durch Kinobesuche, Tanzvergnügen, eine bevorstehende Reise nach Paris.

Er ermunterte seinen Bruder, das Leben nach Möglichkeit zu genießen, klagte darüber, dass auch seine Berufsaussichten schlecht seien, und äußerte die vage Hoffnung, die Familie irgendwann wiederzusehen.

Dann gibt es noch ein paar Bilder. Bautista allein oder in Gesellschaft seiner Freunde aus dem Kommando Poschacher, deren Väter ebenfalls in Gusen umgekommen sind: Jesús Tello Gómez, Jesús Grau Suñer, Pedro Suñer Nielles. Auch Grau und Suñer stammten aus Calaceite, ebenso ein hübsches Mädchen mit hochgestecktem Haar und in geblümter Bluse, das ihm ein Porträtfoto gewidmet hatte: "Bewahre diese zärtliche Erinnerung dieser deiner Freundin, die dich ihr Lebtag lang nicht vergisst und dich sehr schätzt. Maria Roig" – Aufnahmen, Versprechen einer Zukunft, die es für ihn nicht geben sollte. Als Letztes ein Bild seines Vaters Francisco, im Profil, mit ernster Miene, als ahnte er schon, was ihm bevorstand. Es wäre ein Trost zu wissen, dass Bautista bei ihm war, als er starb.

Jahre nach Kriegsende erhielt Leoncia Casasús von der Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung für die Ermordung ihres Mannes zugesprochen. Als der Pfarrer von Calaceite davon erfuhr, wollte er sie überreden, den Betrag der Kirchengemeinde zu spenden. Joaquín: "Er sagte zu meiner Mutter, die sehr katholisch war: ,Durch die Gnade Gottes werden Sie nun dieses Geld bekommen, und damit könnten wir eine neue Kapelle errichten.' Sie erwiderte: ,Padre Vicent, wo war Gott eigentlich, als man meinen Mann umgebracht hat?'" (Erich Hackl, Album, 22.8.2015)