Genf – Der UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres hat Europa aufgefordert, seine Einstellung zur Einwanderung zu überdenken, statt die Augen vor den Herausforderungen zu verschließen. "Ich finde, dass die Diskussionen über Migration in Europa eher emotional als rational sind", sagte Guterres im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP in Genf.

Anstatt die Zunahme der Zuwanderer und Flüchtlinge unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der europäischen Länder zu regeln, gebe es eine "Situation des Leugnens". "Diejenigen, die von dieser Situation des Leugnens profitieren, sind die Schmuggler und Schleuser", so der Portugiese.

Europa müsse erkennen, dass es angesichts niedriger Geburtenraten auf Zuwanderung angewiesen sei, sagte Guterres. "Migration ist Teil der Lösung von europäischen Problemen." Allerdings sehe sich Europa derzeit mit einem Flüchtlingsandrang konfrontiert, wie es ihn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben habe. Dies sei eine "Eskalation ohne Parallelen in der jüngeren Vergangenheit", konstatierte der UN-Flüchtlingskommissar. Und angesichts der vielen Krisen in der Welt, etwa in Syrien, sei zu erwarten, dass die Flüchtlingszahlen weiter steigen.

Gemeinsame Antwort nötig

Guterres mahnte Solidarität innerhalb der Europäischen Union an. Nötig sei eine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise, "denn kein Land kann sie allein lösen". Der UN-Vertreter stellte die Asylpolitik Deutschlands und Schwedens dem Umgang anderer EU-Länder mit Flüchtlingen entgegen. "In Europa müssen wir anerkennen, dass manche Länder einen ausgezeichneten Job machen (...), aber es gibt andere Länder, die ihren Job nicht machen", kritisierte Guterres.

Es sei kein Zufall, dass etwa die Hälfte der Asylanträge in Europa in Deutschland und Schweden gestellt würden. Griechenland sei angesichts seiner Finanzkrise mit der massiven Ankunft von Flüchtlingen überfordert. Und einige osteuropäische Länder gingen nicht angemessen mit Flüchtlingen um, "weil sie keine Tradition beim Asyl haben", analysierte Guterres.

Ziegler sieht "Totalskandal"

Auch der frühere UN-Sonderberichterstatter kritisierte die EU und die europäischen Nationalstaaten. Die Situation an der ungarisch-serbischen Grenze, wo die ungarische Regierung wegen der Vielzahl an ankommenden Flüchtlingen einen 175 Kilometer langen Zaun bauen lässt, ist ein "Totalskandal" und "Totalbruch des Völkerrechts". In der Flüchtlingsdebatte haben aber nach Ansicht des Schweizer Globalisierungskritikers Jean Ziegler auch die gesamte EU und die Vereinten Nationen versagt. Letztere bezeichnet Ziegler im Gespräch mit der APA als "jämmerliche Weltmacht".

Das Recht, in einem anderen Land einen Asylantrag zu stellen – also Schutz zu verlangen, wenn man aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird -, ist ein universelles Menschenrecht, das durch die UNO-Flüchtlingskonvention von 1952 festgeschrieben ist. "Das ist absolut" und steht über jeder anderen nationalen oder internationalen Rechtsnorm, erklärt Ziegler. Durch die Errichtung des Grenzzauns werde dieses jedenfalls grob verletzt. "Und die EU reagiert nicht", empört er sich. Seiner Meinung nach muss Brüssel alle Sanktionsmöglichkeiten ausschöpfen. "Die Respektierung aller Menschenrechte ist Bedingung für die EU-Mitgliedschaft."

Dass die Weltgemeinschaft, insbesondere Europa, mit der Flüchtlingsproblematik überfordert ist, versteht Ziegler und plädiert deshalb für automatisches, vorläufiges Asyl für Schutzbedürftige aus Kriegszonen – so lange der Konflikt dauert. Wie das die Konvention übrigens auch vorsieht. Das heißt, "provisorische Kollektivaufnahme" für Syrer – ohne individuellen Asylprozess. Vor allem die langwierigen bürokratischen Vorgänge im Asylverfahren sind dem Experten ein Dorn im Auge. (APA/AFP, 21.8.2015)