Altaussee/Wien – Die SPÖ sei "perspektivlos, orientierungslos, hilflos, konzeptlos, kulturlos", sagte Hannes Androsch, Ex-Vizekanzler und Finanzminister unter Bruno Kreisky, im STANDARD-Gespräch. Die Parteiführung schaffe es nicht, klare politische Botschaften zu platzieren und den Menschen auch unangenehme Wahrheiten zu vermitteln.

Aus dem Reformstillstand erwachse Österreich bereits ein Standortnachteil, "den Föderalismus haben wir aus dem Ruder laufen lassen". Das manifestiere sich im Schul- und Gesundheitswesen, bei der Jugendwohlfahrt "und in geradezu erschütternder Weise bei der Asyl-Frage".

Für die Wahlen in Oberösterreich und Wien im Herbst erwartet Androsch schlechte Ergebnisse. Und er mahnt: Dennoch müsse die SPÖ für die Bundespräsidentschaftswahlen einen geeigneten Kandidaten aufstellen. Das seien "nicht unbedingt jene, die sich anbieten". Eine Nichtkandidatur bei der Präsidentschaftswahl käme einer "bedingungslosen Kapitulation" gleich.

STANDARD: Seit Wochen plagt sich die Bundesregierung bei der Unterbringung von Flüchtlingen, Amnesty kritisiert die Zustände in Traiskirchen. Was sagen Sie dazu?

Androsch: Wir haben eine stolze humanitäre Tradition, Flüchtlinge aufzunehmen. Manche haben das ja auch selbst als Kinder erlebt, diese Turbulenzen, Millionen Vertriebene nach dem Krieg. Ich bin als Siebenjähriger selbst Zeuge davon gewesen. Und danach ging es weiter – vom Ungarnaufstand über das Ende des Prager Frühlings im 1968er-Jahr bis hin zu den tragischen Bosnienkonflikten. Nie gab es Probleme, diese Menschen aufzunehmen. Dass wir jetzt mit dem Problem nicht fertig werden, das ist eine Schande – ebenso wie die Zustände in Traiskirchen. Wir sehen derzeit ein fundamentales Versagen; nicht nur der Regierung, sondern auch der Länder. Die Menschen sind viel mehr bereit, etwas zu tun, aber die Angebote werden nicht angenommen.

STANDARD: Woran liegt das?

Androsch: Es ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich bin kein Tiefenpsychologe. Das übersteigt mein Verständnisvermögen.

Hannes Androsch haben die Jahre nicht milder gemacht. Er ärgert sich ausdrucksstark über allgemeines Politikversagen in Österreich, Mut- und Ideenlosigkeit und mangelnde Leadership: "Den Leuten auf den Mund schauen? Ja. Aber nur nach dem Maul reden? Nein."
Foto: Stuiber

STANDARD: Sie leben zum Teil in Altaussee: Gibt es hier Flüchtlinge?

Androsch: Bad Aussee hat angeboten, Flüchtlingsfamilien aufzunehmen. Das wurde auch nicht angenommen, höre ich.

STANDARD: Der ehemalige Innenminister Franz Löschnak sagte kürzlich im STANDARD, das Problem sei auch, dass die Bundesländer einfach zu viel Macht hätten und diese gegen den Bund einsetzten.

Androsch: Das ist ein weiteres Problem, dass sich nur manifestiert an dieser Thematik. Österreich ist ein föderales Land, das sind die Vereinigten Staaten, Indien, Deutschland und die Schweiz auch. Das ist ja durchaus sinnvoll, niemand will einen Einheitsbrei eines Zentralstaates. Aber den Föderalismus, den wir haben, der ist uns aus dem Ruder gelaufen. Das ist beim Schulwesen genauso wie bei der Jugendwohlfahrt, bei den Spitälern und in einer geradezu erschütternden Weise bei der Asylfrage.

STANDARD: Die rot-schwarze steirische Koalition hat Reformen begonnen – sowohl SPÖ als auch ÖVP erlitten bei der letzten Wahl massive Verluste. Darf man in Österreich nichts verändern?

Androsch: Am wenigsten ist das steirische Ergebnis eine Folge der steirischen Landespolitik oder war es noch weniger in Vorarlberg oder im Burgenland – und wird es auch nicht in Oberösterreich und Wien sein. Das ist überwiegend eine Folge der nicht vorhandenen Bundespolitik. Und warum? Weil der Föderalismus aus dem Ruder läuft. Dazu passt auch die Tatsache, dass die Landesparteien über ungleich mehr Geld aus öffentlichen Haushalten verfügen als die Bundesparteien. Wer das Geld hat, schafft an. Und dann ist da dieses inhaltliche Vakuum, das die Regierung in der politischen Gestaltung seit Jahren offen lässt.

STANDARD: Warum dieses Vakuum?

Androsch: Es ist kein Zufall, dass alte Schlachtrösser wie Heinz Kienzl (Ex-ÖGB-, Ex-Nationalbank-Manager, der wie Androsch gegen Kreisky für den "harten Schilling" eintrat, Anm.), der Taus, der Löschnak oder der Androsch dieselbe Meinung vertreten. Da kann man sagen "Mein Gott, diese alten Deppen". Na, so deppert sind sie vielleicht nicht. Kienzl erinnerte kürzlich in der Wiener Zeitung an den ehemaligen ÖGB-Präsidenten Johann Böhm, der klare, pointierte Standpunkte vertreten hat. Das gibt es heute alles nicht mehr. Wir haben auch keine funktionierende Sozialpartnerschaft mehr. Sie steht zwar jetzt in der Verfassung, nur da steht inzwischen alles.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ex-ÖVP-Obmann und Industrieller Josef Taus zusammen mit Androsch am 22. April 2015.
Foto: APA/Fohringer

STANDARD: Es fehlt den Verantwortlichen an Profil?

Androsch: Es ist auch die Einstellung der Leute. Die Politik ist ja schon ein Spiegelbild von uns selbst. Wir spüren zwar, dass etwas geschehen müsste, weil sich die Welt um uns ändert. Aber gleichzeitig wollen wir, dass sich nichts ändert. Da kann man nur Erich Fried zitieren: "Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt." Das ist die logische Konsequenz. Da wäre Leadership gefragt, sich damit auseinanderzusetzen und den Leuten zu erklären, dass man etwas tun muss. Da ist für Bequemlichkeit, Wehleidigkeit, Vollkaskomentalität und Nulltariffantasien kein Platz. Ich wiederhole immer wieder, das weiß jeder Bauer: Was man nicht erwirtschaftet, kann man nicht verteilen. Die Trivialität ist fast peinlich, aber das wird ignoriert.

STANDARD: Die meisten Leute wollen das nicht hören, deswegen sagt die Politik das nicht.

Androsch: Das ist das Henne-Ei-Problem. Ich habe aus einer gewissen Not heraus das Maßnahmenpaket 1977/78 schnüren müssen. Das war sicher nicht populär. Dennoch haben wir 1979 die höchste absolute Mehrheit erzielt. Man kann das den Menschen erklären. Leadership funktioniert nicht nach dem Motto "Hier zieht mein Volk, ich muss ihm nach, ich bin sein Führer." Den Leuten auf den Mund schauen? Ja. Aber nur nach dem Maul reden? Nein. Politik ist Gestalten nicht Hintennachrennen.

STANDARD: Sie haben das Bildungsvolksbegehren initiiert. Seither ...

Androsch: ... sind bald fünf Jahre vergangen, und im Grunde ist nicht wirklich etwas geschehen. Wenn man das mit den Niederlanden vergleicht: Da gibt man pro Kind und Jahr 7800 Euro aus und ist glücklich und zufrieden in autonomen Ganztagsschulen. Wir geben 9130 Euro aus, und alle sind unzufrieden, die Ergebnisse sind unbefriedigend. Man kann nicht auf der einen Seite beklagen, dass so viele Frauen teilzeitbeschäftigt sind, und ihnen dann kein Angebot zur Kinderbetreuung machen. Alle sind gestresst, genervt, angefressen. Die Lehrer, die Eltern, die Schüler sowieso. In den westlichen Bundesländern beginnt man das endlich zu kapieren, in einigen anderen – ich weiß nicht, hinter welchem Mond die immer noch leben. Wenn man wenigstens politischen Erfolg hätte, aber das kann man ja wohl auch nicht behaupten.

STANDARD: Seit Jahren wird kritisiert: Wenn sich nichts ändert, hat Österreich einen Standortnachteil.

Androsch: Na, haben wir ja schon.

STANDARD: Wirklich? Wien etwa liegt bei allen Umfragen zur Standortqualität vorn.

Androsch: Moment, da muss man unterscheiden. Die Lebensqualität der Stadt ist hervorragend. Das ist nicht im gleichen Maße der Fall für die Wirtschaftskraft, gar nicht für die industrielle und am wenigsten für die Universitäten. Wien ist die größte deutschsprachige Universitätsstadt im europäischen Raum. Aber schauen Sie sich die Rankings an! Das ist kein Vorwurf an Wien, weil die Universitäten sind Bundessache.

STANDARD: Was sagen Sie zum Zustand der SPÖ?

Androsch: Diese Entwicklung schmerzt einen und stimmt einen traurig oder lässt einen verzweifeln. Nach dem Begräbnis von Barbara Prammer kam ein alter sozialdemokratischer Haudegen-Abgeordneter zu mir und sagte mürrisch: "Na was sagst, wo sind wir hingekommen. Wenn wir so weitertun, sind wir weg." Kürzer kann man die Analyse nicht auf den Punkt bringen.

STANDARD: Wo ist das Problem?

Androsch: Die SPÖ ist perspektivlos, orientierungslos, hilflos, konzeptlos, kulturlos.

STANDARD: Was sagen Sie zu Rot-Blau im Burgenland?

Androsch: Es gibt Überschneidungen und Trennmengen zwischen Parteien. Für mich ist die FPÖ erst dann partnerschaftsfähig, wenn sie eine andere Haltung gegenüber Ausländern und in der Europafrage hat und was die Vergangenheit anlangt. Das sind ganz entscheidende Fragen. Von 1959 weg bis 1970 war eine Annäherung möglich. Da war aber auch die FPÖ-Gebarung eine andere. Aber es hat sich wieder in die falsche Richtung entwickelt.

STANDARD: Alte Nazis hat es 1970 auch gegeben.

Androsch: Ja, mein Gott, die sind auch älter geworden, sofern sie überhaupt noch leben. Die Jungen ... da muss ich sagen, da sind wir wieder beim Bildungssystem. Und dann muss man verlangen von dieser Partei, dass sie zu diesen drei Punkten eine klare, akzeptable Position einnimmt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Hannes Androsch und Werner Faymann am 7. Jänner 2013 anlässlich eines Empfangs zum Personenkomitee "Unser Heer".
Foto: APA/ HERBERT PFARRHOFER

STANDARD: Hat Rot-Blau im Burgenland Werner Faymann geschwächt, oder sitzt er noch fest im Sattel?

Androsch: Man kann im Sattel sitzen und unterm Sattel ist kein Pferd. Also: Wo sitzt man dann, und wohin bewegt man sich?

STANDARD: Braucht die SPÖ einen neuen Vorsitzenden?

Androsch: Das müssen sich die Delegierten am Parteitag überlegen.

STANDARD: Wie gehen die Wahlen in Oberösterreich und Wien aus?

Androsch: Wenn es gut ausgeht, schlecht, und wenn es schlecht ausgeht, sehr schlecht.

STANDARD: Was wird dann sein?

Androsch: Regierungsfähiger werden wir nicht geworden sein. Und zukunftsfähiger auch nicht.

STANDARD: Wie empfinden Sie die Abwerbeaktion der ÖVP für Team-Stronach-Mandatare?

Androsch: Dass das Team Stronach eine Veranstaltung der politischen Clownerie war, das war von Anfang an klar. Man sollte sich einmal anschauen, wieso und durch wen, um welchen Preis und mit welchen Förderungen im Nachhinein der Herr Stronach die Steyr Daimler Puch und ein Grundstück in Ebreichsdorf bekommen hat, das landwirtschaftlich umgewidmet wurde. Das hat bisher noch niemanden interessiert, und das ist jetzt bald 20 Jahre her.

STANDARD: Soll die SPÖ einen eigenen Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl aufstellen?

Androsch: Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Das war seit 1945 so, alles andere wäre "unconditional surrender". Die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten ist für die relativ noch immer größte Partei eine Verpflichtung.

STANDARD: Obwohl interne Umfragen besagen, dass potenzielle Kandidaten keine gute Chancen hätten?

Androsch: Da muss man halt einen Überzeugenden wählen, und das müssen nicht unbedingt die sein, die das Amt anstreben. Das ist zwar legitim, aber es ist noch nicht gesagt, dass das schon die beste Wahl ist. Vielleicht findet man jemanden, der die Menschen davon überzeugt, dass dort eine verlässliche und einwandfreie, akzeptable Persönlichkeit sitzt – nicht nur als Repräsentant, sondern als Volksnotar, der zum Beispiel auch nicht jedes Gesetz oder jede Verfassungsbestimmung unterschreibt. Es ist ein Instrument, das der Bundespräsident – in Grenzen – hat, daher ist er auch genau deshalb wichtig. Er ist eine moralische Kraft. Man sieht, wie solche Funktionen richtig ausgelegt werden können, etwa am Verfassungsgerichtshof und seinem Präsidenten.

STANDARD: Wäre VfGH-Präsident Holzinger ein guter Kandidat?

Androsch: Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, ob er überhaupt dazu bereit wäre. Ich nehme ihn nur als Beispiel dafür. Man muss über den eigenen Tellerrand blicken, sich umschauen und aus dem engsten Umfeld hinaustreten, dann findet man schon geeignete Persönlichkeiten. Ansonsten wird das allzu inzüchtlerisch. (Petra Stuiber, 18.8.2015)