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Das Museum für zeitgenössische Kunst in Niterói bei Rio, das Oscar Niemeyer mit seinen typischen Linien versehen hat.

Foto: Corbis / Jane Sweeney

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Dieser Sessel stammt aus der Feder des brasilianischen Stardesigners Sergio Rodrigues.

Foto: AP Photo / Sergio Rodrigues Design

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Rückenteil und Sitz aus Leder bestehen aus einem Stück.

Foto: AP Photo / Sergio Rodrigues Design

Dieser lebensfrohe Entwurf ist von Ricardo Fasanello.

Foto: Atelier R. Fasanello

Fasanellos Arbeiten sind durch runde Formen gekennzeichnet.

Foto: Atelier R. Fasanello

Paolo Sergio Niemeyer trägt an einem großen Namen – dem seines Urgroßvaters Oscar Niemeyer – dem Erbauer der Planhauptstadt Brasília und Mitkonstrukteur des UN-Hauptquartiers in New York. Der Urenkel hat einen sonnengegerbten Teint, grüne Augen und eine Leidenschaft: das Familienerbe zu bewahren. In Niemeyers Büro, Copacabana, ein geschwungener weißer Bau mit Fensterfronten, führt ein knarrender Aufzug in die neunte Etage. Dort empfängt der 45-Jährige.

Im Zentrum des Penthouse schwingt ein Zwitter aus Schaukel- und Liegestuhl, entworfen vom alten Niemeyer persönlich. Den Schwer- und Ruhepunkt zu finden erfordert ein wenig Hin- und Herrutschen. Andere Möbel, die der Meister in den 1960er-Jahren für sich erdacht hat, will der Junior nun neu auflegen. Ein Tisch namens "Oscar" wird demnächst in den Handel kommen, eine Chaiselongue und eine Lampe sollen folgen.

Vintage-Modernismus

Paolo Sergio Niemeyer steht nicht allein mit seinem Schaffen. Modernismus, die Gestaltungsrichtung, für die der 2012 verstorbene Architekt steht, ist bei den Brasilianern wieder beliebt. Die kühnen Gebäude von Niemeyer, die Gärten von Burle Marx, die revolutionäre Inneneinrichtung von Ricardo Fasanello oder Sergio Rodrigues. All das kam aus Rio. Und all das erfährt an selbiger Stelle eine neue Aufmerksamkeit. Dank Geschmacksgurus wie Marcelo Vasconcellos, der mit seinem Vintage-Möbelgeschäft Mercado Moderno den Modernismus wie kein Zweiter propagiert, verstehen nun auch die letzten Cariocas, dass Rio neben Samba und Sonne eben auch Design bedeutet.

Eine Designerkundung zwischen Promenade und Urwaldhügeln beginnt mit diesem atemberaubenden Anblick über den weißen Strand der Copacabana – das weltberühmte Panorama von Rio, in das sich jeder so leicht verliebt. Modernismus, erklärt Paolo Niemeyer im Penthouse, das war ab den 1940er-Jahren eine große Idee. Bauhaus hatte Europa erobert und wurde während des Faschismus in seine Schranken gewiesen. In Brasilien entwickelten Kreative deren Prinzipien weiter. Sie fügten der strengen Moderne eine verspielte Komponente hinzu, gaben ihr mit anderen Materialien eine einheimische Note und planten eine schöne neue Welt in Betonweiß und Tropenholz.

Niemeyer in Niterói

Im hinteren Teil des Büros, zwischen Lenin-Büste und Bücherwand, hat Oscar Niemeyer früher seine Skizzen gezeichnet. Nun erklärt Paulo Sergio Niemeyer am selben Ort, dass er ein Institut gegründet hat, um das Leben des Urgroßvaters zu würdigen. Er will mit Herstellern Lizenzen verhandeln und gleichzeitig die verbliebenen Projekte des größten brasilianischen Architekten vorantreiben. Drüben in Niterói, Niemeyer zeigt auf die andere Seite der Bucht, wo kilometerweit entfernt grüne Hügel aufsteigen, gibt es zwar schon ein Museum, ein Theater und einen Universitätsbau von Niemeyer, doch eine Kathedrale und ein Wohnturm fehlen noch. Vor Jahren auf Eis gelegt, "die Politik", stöhnt Niemeyer, jetzt soll es vorangehen.

450 Jahre Rio

Zwischen Fußball-Weltmeisterschaft und Olympia ist für Rio de Janeiro ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten. 450 Jahre Bestehen feierte die Metropole dieses Jahr, es scheint, als würde sie sich besinnen wollen auf ihre Geschichte und auf ihre Stärken. Ihre Schwächen sind sowieso allerorten erlebbar: die soziale Ungleichheit, die kriminelle Gewalt und der schlecht organisierte Nahverkehr.

An Letzterem liegt es, dass das hübsche Viertel Santa Teresa im Moment so schwer zu erreichen ist wie früher Westberlin von der DDR aus. Die Tram, die Lebensader des kolonialen Hügel-Stadtteils, wird seit Monaten im Schneckentempo restauriert, die engen Straßen sind aufgerissen, und viele Taxis weigern sich, das steile Kopfsteinpflaster hinaufzufahren.

Mit Gepard im Club

An der Rückseite des Hügels, in einer Seitenstraße des Largo das Neves (übersetzt: Schneeplatz), residiert Ricardo Fasanello. Sein Vater gleichen Namens war der heimliche Star unter Rios Möbeldesignern. Er wurde 1930 in eine reiche Familie hineingeboren, galt als notorischer Playboy, leidenschaftlicher Rennfahrer und exzentrischer Sammler. In den frühen 1950er-Jahren kaufte er sich in New York einen Geparden, mit dem er in den Clubs in Copacabana hofierte.

In den 1960er-Jahren ging Ricardo Fasanello das Geld aus, für Designfans muss man sagen: zum Glück. Er besann sich auf seine kreativen Fertigkeiten und gründete 1966 eine Firma für Möbel. Fasanello entwarf Sessel, die vom Modernismus dessen Verspieltheit erbten. Er verwendete jedoch kein Holz mehr, sondern Fiberglas, Schaumstoff oder Wildleder, er arbeitete nicht mit klaren Linien, sondern kugelrunden Formen. Das Esfera-Modell, eine Art massiver Eierbecher mit robusten Lederkissen zum Hineinfläzen, steht seit kurzem auch in der Sammlung des San Francisco Museum of Modern Art.

Beste Zeit für Möbel

Diese Möbel werden auf aller Welt gerade wiederentdeckt, obwohl der Designer bereits 1993 verstorben ist. Der 49-jährige Filius sagt, im Moment sei "die beste Zeit für brasilianische Möbel". Die Menschen schätzten wieder die Handwerkstradition. In der angeschlossenen kleinen Fabrik produziert Fasanello nur 600 Exemplare pro Jahr – immerhin ein Anstieg von 250 Stück. Statt Massenkonfektion suchen betuchte Brasilianer und geschmäcklerische Weltbürger nun individuelle Entwürfe. "Mehr Ferrari, weniger Volkswagen", sagt Fasanello.

Die Sitzmöbel werden vor Ort in Santa Teresa hergestellt, der üble Geruch von Kunstharz kriecht hier stechend in die Nase. Ricardo Fasanello führt hinunter in den Hof, wo die Sessel in einer kleinen Halle von Hand zusammengesetzt werden. Auf der Mailänder Möbelmesse dieses Jahr konnte sich Fasanello vor Anfragen kaum retten. Er lächelt, wenn er sein Verkaufsmantra aufsagt: "Wenn Sie ihn sehen, mögen Sie ihn, wenn Sie darauf sitzen, wollen Sie ihn haben."

Strenge Geometrie

Das liegt auch an einem Mann, der höchstens zwei Kilometer entfernt von Ricardo Fasanello sein Geschäft betreibt: Marcelo Vasconcellos hat mit seinem Vintage-Geschäft "Mercado Moderno" maßgeblich das Interesse für Möbel aus der Modernismus-Ära vorangetrieben. Natürlich steht auch ein Sessel von Fasanello bei ihm zu Verkauf, ein niedriger fünfstelliger Betrag in US-Dollar, "viel zu wenig", sagt Vasconcellos. Der Mercado befindet sich an der Grenze von Lapa und dem alten Zentrum, gar nicht weit weg von dem Aquädukt, über den einmal die Straßenbahn nach Santa Teresa fuhr und der modernistischen Kathedrale von Rio, die wie ein stumpfer Betonkegel zwischen gläsernen Bürohochhäusern steht. Eine Erinnerung an die 1960er-Jahre, in denen Gebäude einer strengen Geometrie folgten und Möbel einen versponnenen Gegensatz dazu bilden durften.

Besonders gefragt sind gerade die dreibeinigen Tropenholz-Stühle von Joaquim Tenreiro, gefertigt aus fünf verschiedenen Holzarten, die heute teilweise gar nicht mehr abgebaut werden dürfen – unter anderem Mahagoni und Palisander. Vasconcellos weiß von solch einem Stuhl, für den ein Preis von 200.000 Euro geboten wurde. Vor zehn Jahren, erzählt der Vintage-Guru, kostete das Modell noch um die 15.000 US-Dollar.

Mit Designern faulenzen

Für viele ist Tenreiro der Vater des brasilianischen Möbeldesigns, Oscar Niemeyer ließ dessen schlichte Möbel in seiner Privatwohnung aufstellen, doch es ist Sergio Rodrigues, der weltweit die größte Aufmerksamkeit genießt. Die Mole-Sofas, entworfen mit einem robusten Tropenholzrahmen und ausgestattet mit einer überbordenden Ledergarnitur, machten Rodrigues 1961 zu einem Star. Auch Möbel von Rodrigues, der vergangenes Jahr verstarb, finden sich im Mercado. Neben diesem haben sich inzwischen eine Reihe von ähnlichen Vintagegeschäften etabliert. Besucher können außerdem im Santa Teresa Hotel erleben, wie es sich mit Möbeln von Sergio Rodrigues und anderen Designern schlummern, faulenzen und frühstücken lässt.

Fündig in Favelas

Marcelo Vasconcellos erinnert sich an die 1980er- und 1990er-Jahre, als die Menschen in Brasilien reicher wurden und dachten, sie müssen ihren Wohlstand mit neuen Möbeln zelebrieren. Also landete die alte Einrichtung bei den Hausangestellten, die sie in ihren Hütten in den Favelas aufstellten. Vasconcellos durchkämmte bis vor 15 Jahren die Armenviertel der Stadt und fand dabei immer wieder Möbelstücke der brasilianischen Moderne. Besonders Sammler aus den USA wollten die exquisiten Teile damals haben, die zur Entstehungszeit kaum außerhalb des Landes verkauft wurden. Seit etwa fünf Jahren ist auch das Interesse in Europa stark angestiegen. Vasconcellos verkauft nach Paris, Brüssel und London, an jeden, der sich den Zoll leisten kann.

Der Modernismus-Wiederverkäufer betont, wie wichtig heutzutage gerade jungen Designern die Entwürfe aus dieser Zeit sind. Ihre Arbeiten knüpfen oft an die der Altmeister an. Deshalb gibt es im Mercado Moderno auch Möbel von jüngeren Kreativen wie Flavio Franco, Hugo Sigaud oder Carlos Motta. Die Leichtigkeit der Entwürfe und ein gewisser Hang zum Überfluss eint sie mit den Campana-Brüdern, den derzeit berühmtesten Möbeldesignern aus Brasilien. Und deshalb gibt es auch ein auf Hochglanz poliertes Möbelhaus wie das Arquivo Contemporaneo in Ipanema. Die Stücke hier, die Sessel von Fasanello, die Sofas von Rodrigues und Stühle von Motta, sind alle neu und teuer. Genau das richtige für das exklusive Strandviertel Ipanema.

Die Schnäppchentag sind vorbei

In den Mercado können Kunden einfach hineingehen, in das Arquivo fahren sie mit Limousine vor und müssen an der Tür klingeln. Das ist Usus in den Reichenvierteln, ein Überbleibsel aus den 1990er-Jahren, als gewaltsame Überfälle die Schickeria das Fürchten lehrten – und diese ihre Hausauffahrten mit Gittern schützten, die auch für Nashorngehege geeignet wären. Dass man im Arquivo nur klingeln muss, ist quasi schon einem unbeschwerteren Sicherheitsgefühl geschuldet. Nicht nur die exklusive Lage, auch die drei Etagen des Einrichtungshauses sind sichtbare Beweise, dass die Schnäppchentage des brasilianischen Modernismus nun vorüber sind. Die Erben der ersten Schöpfergeneration, die Nachfahren von Fasanello und Niemeyer, freuen sich darüber ganz besonders. (Ulf Lippitz, Rondo, 21.8.2015)