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Der große Wiener Pianist Friedrich Gulda (1930-2000) huldigte dem Jazz und blieb dennoch sein ganzes Leben lang den Klassikern verbunden: Sein "Wohltemperiertes Klavier" bleibt eine Inseleinspielung.

Foto: Reuters/Leonhard Foeger

Bach: J. S. Bachs Das Wohltemperierte Klavier, in zwei Teilen ausgeführt, bildet das "Alte Testament" der abendländischen Klavierliteratur. Der Barockmeister (1685-1750), damals Kapellmeister in Anhalt-Cöthen, veröffentlichte Teil eins 1722 zum "Nutzen und Gebrauch der Lehr-Begierigen Musicalischen Jugend".

Bausteine: Temperierung (oder Temperatur) bedeutet nichts anderes als den "Ausgleich der Stimmung". Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden Tasteninstrumente so eingestimmt, dass man alle Tonarten auf ihnen spielen konnte. Die reine Oktave wird dabei in zwölf gleiche Stufen unterteilt. Die daraus resultierenden Halbtonintervalle ergeben die Bausteine für alle denkbaren Tonarten, von C-Dur, c-Moll usw. hinauf bis zu H-Dur und h-Moll.

Gould: Es fällt schwer, sich ein modernes Bach-Spiel ohne die Beiträge des kanadischen Exzentrikers Glenn Gould (1932-1982) vorzustellen. Gould sägte die Beine seines Klavierstuhls ab und betrat das Tonstudio manchmal in Handschuhen. Wenn er die Bach'sche Polyfonie (Mehrstimmigkeit) vollendet durchhörbar machte, verstummten alle Einwände gegen seine Marotten, seine übertriebenen Tempi und andere Eigenmächtigkeiten. Gefiel Gould eine Stelle ob ihrer Kantabilität besonders gut, pflegte er innig mitzusummen. Manche Bach-Fugen schien er wie durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten. Seine Einspielung des Wohltemperierten Klaviers galt für lange Zeit als das Maß aller Dinge.

Gulda: Der Wiener Friedrich Gulda (1930-2000), Schüler von Bruno Seidlhofer, war das pianistische Wunderkind seiner Generation. In einem Alter, in dem andere vor der Matura zittern, rief er mit seiner Interpretation der 32 Beethoven-Sonaten schieres Erstaunen hervor. Beinahe erschreckend schienen der ruhige Puls seines Spiels und die Selbstverständlichkeit, mit der er die technischen Herausforderungen meisterte.

Hausgötter: Guldas Hausgott blieb zeitlebens Wolfgang Amadeus Mozart. Gegen den Konzertbetrieb entwickelte er früh Aversionen. Da "die Klassiker nicht die Probleme des heutigen Menschen" hätten, wandte Gulda sich dem Jazz zu. Obwohl er bereits 1958 mit US-Größen wie Idrees Sulieman oder Jimmy Cleveland astreinen Bop aufnahm, wurden seine Improvisationskünste mitunter belächelt.

Kanon: In den MPS-Studios in Villingen wurde für Gulda extra ein Bösendorfer Grand Imperial angeschafft. Das ambitionierte Plattenlabel im deutschen Schwarzwald hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit Jazzgrößen wie Oscar Peterson zusammengearbeitet. Hier nahm Gulda 1972/73 die beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers jeweils in einem Zug auf. Ungewöhnlich war die nahe Mikrofonierung über den Saiten, die ein extremes Auskosten dynamischer Kontrastwirkungen ermöglichte.

Klavier: Bach bestimmte seine Präludien und Fugen für das "Clavier", enthielt sich jedoch jeder Vorschrift zur Wahl des Instruments. Er kannte bereits Hammerklavier und "Fortepiano" und schätzte dessen anschlagsmodulatorische Qualitäten. Gulda stellt in den Linernotes seiner Aufnahme fest, dass die verschiedenen Stücke je nach Charakter den Gebrauch von Clavichord, Cembalo oder Orgel nahelegen würden. Er, Gulda, habe versucht, den wechselnden Umständen durch Pedalisierungs- und Anschlagsnuancen Rechnung zu tragen.

Spiel: Der Geist von Guldas Bach-Aufnahme ist auf beglückende Weise klassisch und dennoch "modern". Tatsächlich meint man, das Ohr auf den Saiten liegen zu haben. Kein Rubato trübt die Klarheit des Eindrucks. Keine Ungeduld wird spürbar. Das gleichmäßige Fließen der Linien erzeugt eine Erhabenheit, hinter der man – je nach Veranlagung des Gemüts – Abgeklärtheit oder die christliche Ergebung in das Schicksal spüren mag (Erster Teil, As-Dur-Fuge BWV 862). Dabei verströmt Gulda wunderbarerweise niemals die Herbheit eines Gustav Leonhardt am Cembalo. Am ehesten verschlossen bleiben Gulda noch die transzendentalen Abgründe, die Swjatoslaw Richter in Präludium und Fuge h-Moll (BWV 869) zu entdecken verstand.

Weiser: Professor Peter Weiser charakterisierte Guldas Bach-Spiel wie folgt: "Bei Bach war die Seelenlandschaft, in die Gulda versetzt wurde, eine Gegend, in der schwarzgrüne Zypressen und kalkweiße Mauern in vollende-tem Ebenmaß einander gegenüber standen." (Ronald Pohl, 18.8.2015)