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Ein Flüchtling will sich in der mazedonischen Grenzstadt Gevgelija offenbar in einen Zug schleichen, um schneller nach Ungarn und damit in die EU zu gelangen.

AP

Europas Brennpunkte in Sachen Flüchtlingsbewegungen häufen sich: Derzeit stehen die griechischen Inseln nahe der Türkei und dabei vor allem Kos im Mittelpunkt. Zehntausende Migranten stellen dort die Behörden vor unlösbare Probleme. Schon etwas länger wollen tausende Flüchtlinge von der französischen Stadt Calais aus durch den Eurotunnel nach Großbritannien gelangen, weil sie sich auf der Insel bessere Chancen erwarten. In der mazedonischen Grenzstadt Gevgelija versuchen ebenfalls tausende Migranten einen der raren Plätze in den Zügen in Richtung Serbien zu ergattern, um von dort nach Ungarn und somit in die EU zu kommen, bevor der ungarische Zaun an der Grenze zu Serbien fertiggestellt wird. Schließlich folgt im Mittelmeer Flüchtlingsdrama auf Flüchtlingsdrama. Erst am Samstag erstickten 50 Migranten im Laderaum eines Bootes.

Angesichts dieser Geschehnisse hat Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag im ZDF-Sommerinterview erstmals gesagt, dass der Umgang mit den Flüchtlingsbewegungen die EU bald mehr beschäftigen werde als die Griechenlandkrise. Dass eine der wichtigsten Stimmen Europas die Herausforderung beim Namen nennt und für gemeinsame Anstrengungen plädiert, wertet Steffen Angenendt als längst notwendige "Wende". "Viele Politiker glauben ja immer noch, dass die Aufgabe in absehbarer Zeit zu Ende ist. Wir müssen uns aber auf eine langfristige Entwicklung einstellen, und es ist wichtig, dass auch die Politik das so sieht", sagt der Migrationsforscher der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dem Standard.

Als Gründe für Merkels Sinneswandel nennt Angenendt, der unter anderem die EU und UNHCR berät, die drastisch steigenden Asylwerberzahlen in Europa. Er vermutet aber auch, dass es mit dem bisherigen "Versagen der EU" zu tun hat, eine gemeinsame Lösung zu finden: "Merkel hatte auf mehr Solidarität von anderen Länden gehofft. Das Ergebnis hat sie enttäuscht."

Neuer EU-Vorstoß im Herbst

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fühlte sich auf alle Fälle "ermutigt" durch Merkels Worte. Der Luxemburger kämpft schon seit Monaten für verpflichtende Flüchtlingsverteilungsquoten, scheiterte damit bislang aber am Widerstand vor allem osteuropäischer Länder. Im Herbst soll ein neuer Vorstoß erfolgen. "Deutschland hat noch Überzeugungsmöglichkeiten", hofft Angenendt auf eine rasche Einigung. Den Staaten, die Nein gesagt haben, will er aber nicht allein die Schuld geben. "Es hat auch mit dem Stil der EU-Kommission zu tun. Es wirkt, als würde Brüssel etwas auferlegen, und alle anderen müssen folgen. Man muss die Länder aber auf dem Weg zur Mitverantwortung mitnehmen", sagt der Migrationsexperte.

Am Sonntag schlug Merkel konkret bereits vor, die Festlegung sicherer Herkunftsstaaten für Flüchtlinge auf EU-Ebene heben zu wollen. Bislang wird das noch auf nationaler Ebene entschieden. Angenendt befürwortet diesen Plan, warnt aber davor, "dass restriktive Länder eine Nivellierung auf noch niedrigerem Niveau als bislang durchsetzen könnten".

Bis dahin versuchen es viele Länder mit dem Prinzip Abschottung. Einige EU-Länder kokettieren mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen auch innerhalb des Schengenraums. Aktuell denken deutsche und österreichische Politiker und Behörden laut darüber nach. Aus Brüssel hieß es auf Anfrage des Standard, dass "systematische Kontrollen an den Grenzen den EU-Gesetzen widersprechen würden". Verstärkte Polizeikontrollen im Grenzgebiet sind hingegen vereinbar mit dem EU-Regelwerk.

"Schlimmste Variante politischen Handelns"

Ins Detail geht Europarechtsexperte Walter Obwexer, der im Ö1-Mittagsjournal sagte, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur bei einer "schwerwiegenden Bedrohung" gerechtfertigt sei. Migration gehöre laut Obwexer nicht dazu. Angenendt hält dies auch für die "schlimmste Variante an politischem Handeln, ist doch gerade die Freizügigkeit eine der wichtigsten Errungenschaften der EU". (Kim Son Hoang, 17.8.2015)