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Ohne Chemie geht gar nichts. Und nur weil etwas einen langen, kompliziert klingenden Namen hat, muss es nicht schlecht sein.

Foto: Reuters/TOBIAS SCHWARZ

Das Problem an all der Esoterik und Pseudowissenschaft, die ich in diesem Blog regelmäßig kritisiere, ist nicht unbedingt die Esoterik und Pseudowissenschaft an sich. Das Problem sind (oder besser: haben) die vielen Menschen, die auf die Geschäftemacherei mit dem Unsinn hereinfallen, und sie tun das meistens deswegen, weil sie den Unsinn nicht als solchen erkennen.

Das liegt nicht daran, dass all diese Leute dumm sind. Es liegt im Allgemeinen daran, dass vielen Leuten grundlegende Informationen über die Erkenntnisse und die Funktionsweise der Wissenschaft fehlen. Die Behauptung beispielsweise, dass die Nasa die Existenz eines "Planet X" geheim hält, der demnächst mit der Erde kollidieren wird, ist nur dann sofort als Unsinn zu erkennen, wenn man weiß, wie Astronomen arbeiten, wie sich Planeten bewegen und wie Teleskope funktionieren.

Das wissen aber nicht alle (Astronomie ist leider in Österreich nicht einmal ein eigenes Schulfach), und entsprechende Verschwörungstheorien erfreuen sich daher weiterhin großer Beliebtheit. Ganz besonders macht sich die fehlende Verbreitung wissenschaftlicher Bildung aber immer dann bemerkbar, wenn es um die Chemie geht. Denn hier wird das mangelnde Wissen auch noch durch jede Menge Vorurteile verstärkt.

Lebensmittel "ohne Chemie"

"Chemie" gehört, so wie "Atom" und "Gen", zu jenen Wörtern, die bei den meisten Menschen Unbehagen auslösen. Vor allem unsere Lebensmittel sollen nicht nur "genfrei" sein, sondern nach Möglichkeit auch "ohne Chemie".

"Je weniger Chemie im Essen, umso besser", schreibt ein großer Wurst- und Schinkenproduzent mit einer roten Mühle im Logo da zum Beispiel auf seiner Homepage. Für Smartphones existiert eine eigene App, mit der sich "Essen ohne Chemie" im Supermarkt identifizieren lässt. Und die Lebensmittelhersteller geben sich immer mehr Mühe, auf ihren Produkten anzugeben, was alles nicht enthalten ist ("clean labelling"), damit ja kein potenzieller Kunde durch "böse Chemie" abgeschreckt wird.

Die eigentliche Bedeutung des Wortes "Chemie" wird dabei nicht nur ignoriert, sondern völlig verzerrt. Chemie ist die Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, der Struktur und der Umwandlung von Stoffen beschäftigt. Alles ist Chemie. Chemie ist überall und vor allem nichts, was sich irgendwelche bösen Wissenschafter in ihren Labors ausdenken, um die Menschheit krank zu machen. Es gibt keinen Unterschied zwischen "guter Natur" und "böser Chemie". Die Natur kann auch ganz ohne Chemiker höchst giftige Substanzen hervorbringen, und nur weil etwas in einem Chemielabor produziert worden ist, ist es nicht unbedingt gesundheitsschädlich.

Natürlicher Geschmacksverstärker

Es gibt kein "Essen ohne Chemie": Auch eine selbstgezogene Biotomate ist voll mit Chemie. Würde man sie genau so auszeichnen, wie man es mit den Lebensmitteln im Supermarkt macht, würde das zum Beispiel so aussehen: "Zutaten: Wasser, Zucker, Füllstoff Cellulose, Geschmacksverstärker Natriumglutamat, Farbstoffe E160a, E160d, E101, Geliermittel Pektin, Antioxidationsmittel E300, Säuerungsmittel E296, E330, natürliche Aromastoffe" (Quelle: Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V.).

Der "böse" Lebensmittelzusatzstoff E101 ist beispielsweise nichts anderes als Riboflavin, beziehungsweise Vitamin B2, das man in vielen Milchprodukten oder Gemüsesorten finden kann. Das "Säuerungsmittel E330" ist Zitronensäure, die als natürliches Stoffwechselprodukt in den meisten Pflanzen vorkommt. Und auch Natriumglutamat ist keine fiese Erfindung böser Lebensmittelchemiker, die nur in Chinarestaurants zum Einsatz kommt, sondern ein Salz der Glutaminsäure, das fast überall enthalten ist. In reifen Tomaten, Käse (besonders Parmesan) oder anderen würzigen, intensiv schmeckenden Lebensmitteln findet man es besonders häufig – und ganz natürlich.

Legitime Kritik

Selbstverständlich tauchen in den Nahrungsmitteln auch Zusatzstoffe auf, die dort künstlich eingebracht worden sind und nicht unbedingt enthalten sein müssten. Und es ist völlig legitim (und oft auch durchaus notwendig), dies zu kritisieren. Aber ohne zu verstehen, was "Chemie" bedeutet, ist es schwer, diesen Diskurs auch sachlich und seriös zu führen. Nicht nur, wenn es ums Essen geht: Auch in der Medizin werden immer wieder "Chemiebomben" angeprangert, die uns von der "Pharmamafia" vorgesetzt werden.

Impfgegner regen sich dann zum Beispiel über "giftiges Quecksilber" auf, das in manchen Impfstoffen enthalten ist, und ignorieren dabei die fundamentale Erkenntnis der Chemie, dass es immer darauf ankommt, wie sich verschiedene Elemente miteinander verbinden. Reines Quecksilber kann gesundheitsschädlich sein; in Verbindung mit anderen Elementen sieht die Sache ganz anders aus. Wir haben ja auch keinerlei Probleme, uns täglich ebenso gesundheitsschädliches Chlor auf unser Essen zu streuen, denn in Verbindung mit Natrium wird daraus das ganz normale Speisesalz (Natriumchlorid).

Nur weil irgendetwas einen langen, kompliziert klingenden Namen trägt, muss es nicht gleich "böse Chemie" sein. Der alte Witz vom Dihydrogenmonoxid zeigt das recht gut: Diese zugegebenermaßen ungewöhnliche und unhandliche Bezeichnung ist eine wissenschaftlich korrekte Beschreibung für ganz gewöhnliches Wasser. Der chemische Name klingt aber in den Ohren vieler Menschen so bedrohlich, das scherzhafte "Kampagnen gegen den Einsatz von Dihydrogenmonoxid" immer wieder ernst genommen werden und erstaunlich viel Unterstützung finden.

Chemiker in der Verantwortung

An der dieser Angst vor der Chemie zugrunde liegenden Unwissenheit sind die Wissenschafter allerdings selbst auch nicht ganz unschuldig. Vergleicht man die Chemie mit anderen Naturwissenschaften, ist das Angebot an Öffentlichkeitsarbeit überraschend dürftig. In jeder Buchhandlung findet man zum Beispiel eine große Auswahl an Werken über Astronomie, Kosmologie und theoretische Physik, in denen man selbst über so abgehobene und komplizierte Themen wie die Stringtheorie oder Schwarze Löcher allgemeinverständliche Informationen nachlesen kann.

Auch an populärwissenschaftlichen Büchern über Mathematik, Biologie oder Medizin herrscht kein Mangel. Aber wenn es um die Chemie geht, beschränkt sich das Angebot meist auf Sammlungen von Geschichten über die Elemente des Periodensystems oder Anleitungen für simpelste Experimente für den Hausgebrauch. Ein allgemeinverständliches Grundlagenwerk, vergleichbar zum Beispiel mit Stephen Hawkings "Eine kurze Geschichte der Zeit", ist für die Chemie nicht zu finden. (Sollte ich mich irren, bin ich für Literaturtipps sehr dankbar.)

Chemie ist ohne Zweifel eine sehr komplexe Wissenschaft. Es ist nicht einfach, sie der Öffentlichkeit zu vermitteln, und es ist verlockend, sich dabei rein auf die spektakulären Experimente zu beschränken. Der britische Chemiker Andrea Sella (2014 ausgezeichnet mit dem Michael-Faraday-Preis für exzellente Wissenschaftskommunikation) hat die Öffentlichkeitsarbeit der Chemiker entsprechend kritisiert: "Wir haben die letzten 300 Jahre im Wesentlichen damit verbracht, Dinge in die Luft zu jagen", sagte er in einem seiner Vorträge. Und fragte sich, wie das Ganze denn weitergehen soll und ob man nun immer größere und spektakulärere Explosionen vorführen müsse, um das Interesse des Publikums zu bekommen.

Chemie ist Leben

Wenn man sich manche angebliche "Wissenschafts"-Sendungen im Fernsehen ansieht, scheint Sella damit nicht ganz falschzuliegen. Dabei ist Chemie so viel mehr als Explosionen und brodelnde, bunte Flüssigkeiten. "Chemie ist eine überragende intellektuelle Errungenschaft unserer Zeit!", sagte Sella und hat damit völlig recht.

Chemie ist ein untrennbarer Bestandteil unseres Alltags und unseres Lebens. Chemie ist weder gut noch böse. Und um zu erkennen, was uns und unserer Umwelt tatsächlich gefährlich werden kann und was nicht, braucht es ein Verständnis dieser Wissenschaft, das über "Chemie ist, wenn es knallt und stinkt" oder eben "Chemie ist böse" hinausgeht.

Diesen Zustand zu ändern und neue beziehungsweise bessere Wege der Öffentlichkeitsarbeit zu finden sollte auch im Interesse der Chemiker sein. Chemie ist viel zu faszinierend und viel zu wichtig, um den Marketingabteilungen und Esoterikern zu erlauben, den Menschen damit Angst einzujagen! (Florian Freistetter, 18.8.2015)