Paulus Hochgatterer (54), Kinderpsychiater und Schriftsteller, ist Primarius an der kinderpsychiatrischen Abteilung am niederösterreichischen Universitätsklinikum Tulln. In seinen Büchern beschäftigt er sich unter anderem mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen.

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Paulus Hochgatterer: "Die Realität übersteigt immer alles Vorstellbare. Auch und gerade, was den Schrecken betrifft."

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STANDARD: Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es schon lange einen Bedarf an zusätzlichen Kassenstellen. Hat sich da etwas getan?

Paulus Hochgatterer: Ja. In Wien zum Beispiel haben sechs Kolleginnen und Kollegen eine Praxis eröffnet. Das reicht aber bei weitem nicht aus. Zur Illustration: In Deutschland kommen auf eine versorgungsverpflichtete Ordination 80.000 Einwohner. Für Wien hieße das etwa 23 Ordinationen. In Niederösterreich gibt es derzeit fünf besetzte Kassenpraxen für 1,6 Millionen Einwohner. Das ist etwas, wenn man den höheren Bedarf eines großstädtischen Raums ins Kalkül zieht, besser als in Wien. Auch in anderen Bundesländern gibt es Ansätze zur Verbesserung.

STANDARD: Nehmen psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zu, oder nehmen wir sie mehr wahr?

Hochgatterer: Die Aufmerksamkeit für das Thema ist gestiegen, und das ist erfreulich. Was unstrittig ist: Die Zahlen scheinen über die Jahrzehnte gleich zu bleiben. Es haben rund 20 Prozent aller Jugendlichen ernsthafte psychische Probleme, die Hälfte davon Probleme, die einer klinischen Behandlung bedürften.

STANDARD: Gibt es nicht auch die Tendenz, heute jemanden schneller für krank zu erklären?

Hochgatterer: Das ist ein bekanntes Phänomen, als Kinderpsychiater muss ich aber sagen: Mir ist ein Kind, das zu früh oder unnötig in die Praxis oder ins Spital kommt lieber als eines, das nicht kommt, obwohl es dringend Behandlung bräuchte. Wenn man über medizinische Moden spricht, muss man vorsichtig sein, weil man schnell missverstanden wird. Aber sicher gab es die ADHS-Mode, und momentan scheint sich so etwas wie eine Mode im Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen abzuzeichnen.

STANDARD: Das ist für das Thema Ungleichheit die vielleicht wichtigste Frage: Werden arme Kinder eher psychisch krank?

Hochgatterer: Ja, das ist keine Frage und gut untersucht. Ein problematischer sozioökonomischer Status ist ein Risikofaktor, psychisch zu erkranken, für Menschen insgesamt, aber auch für Kinder und Jugendliche.

STANDARD: Die medizinische Zweiklassengesellschaft betrifft auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Hochgatterer: Klar. Wobei: Zusatzversicherte Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie de facto nicht vorkommen. Aber an der Frage, ob sich Eltern die sofortige Finanzierung eines Psychotherapeuten leisten können oder nicht, zeigt sich zum Beispiel die Versorgungsungerechtigkeit. Die Kinder, die es am dringendsten bräuchten, müssen teilweise ein halbes bis ein Jahr warten. Das ist unzumutbar und manchmal schwer zu ertragen.

STANDARD: Gibt es starke Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung?

Hochgatterer: Ja, es gibt Phänomene der Störungsballung im urbanen Bereich, zum Beispiel im Bereich der mit Suchtmittel assoziierten Erkrankungen oder auch im Bereich der Störungen des Sozialverhaltens. Sie haben in erster Linie mit aggressivem Verhalten zu tun.

STANDARD: Wenn sich der Stress einer Gesellschaft negativ auf ihre Kinder auswirkt, müsste die Situation ja schlimmer werden.

Hochgatterer: Die Tatsache, dass mehr über Stress gesprochen wird, heißt nicht, dass der Stress zunimmt. Wenn ich einen Jugendlichen von heute und zum Beispiel einen aus meine Generation betrachte, dann ist in vielen Dingen der Stresslevel vergleichbar. Da gibt es Dinge, an denen hat sich nicht viel verändert. Der kommunikationstechnologisch bedingte Stress ist heute allerdings anders, als er bei uns war.

STANDARD: Bringt das neue Störungen mit sich?

Hochgatterer: Die Facebook-Störung? Oder die WhatsApp-Krankheit? Facebook macht nicht die Kinder krank, sondern die Eltern, weil sie mit dem Erfassungstempo ihrer Kinder nicht umgehen können.

STANDARD: Wenn Jugendliche mit dem Handy am Morgen aufstehen und abends damit ins Bett gehen ...

Hochgatterer: ... dann ist das normal. Das kommt nur uns Erwachsenen seltsam vor. Wenn man einem dreijährigen Kind zuschaut, wie es auf dem iPad ein elektronisches Bilderbuch durchwischt, dann neigen wir alle dazu zu sagen: um Gottes willen, das arme Kind! Ich fürchte, an alldem ist nichts Schlechtes. Diese Dinge sind normale Adaptionsprozesse.

STANDARD: Was sind gängige psychische Erkrankungen?

Hochgatterer: Die gibt es nicht. Behandlungsbedürftige Angst ist immer schon ein Thema in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Depression auch, die geht im Jugendalter häufig bis zur Suizidalität. Ein anderes Thema sind Essstörungen. Die Magersucht, vor allem bei jungen Mädchen, ist etwas, das uns sehr beschäftigt. Im klinischen Bereich gibt es zwei Dauerbrenner: zum einen die expansiven Buben, die in der Pflichtschulzeit große Schwierigkeiten haben, sich anzupassen, und dann die traumatisierten Kinder – Kinder, die physische, psychische oder sexuelle Gewalt erfahren haben bzw. Kinder, die traumatische Verlusterlebnisse erleiden.

STANDARD: Ist die Realität furchtbarer als die Fiktion?

Hochgatterer: In Wahrheit, ja. Die Realität übersteigt immer alles Vorstellbare. Auch und gerade, was den Schrecken betrifft.

STANDARD: Wenn die Akzeptanz von psychischen Erkrankungen gestiegen ist, gilt das auch für sozial Schwache, die besonders gefährdet sind?

Hochgatterer: Es gibt nach wie vor eine Stigmatisierung durch den Begriff "Psychiatrie". Trotzdem hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert, auch dadurch, dass man psychiatrische Anstalten verkleinert, umstrukturiert oder in Allgemeinkrankenhäuser eingegliedert hat. Das macht viel aus, wenn mitten unter somatischen Abteilungen die psychiatrische angesiedelt ist und an diesem Ort ganz normal ist.

STANDARD: Arbeiten Sie auch mit Flüchtlingskindern?

Hochgatterer: Das betrifft in Niederösterreich in erster Linie die Abteilung in der Hinterbrühl, in deren Einzugsbereich Traiskirchen liegt. Wir sind weniger damit befasst, aber deutlich mehr als früher. Diesen Kindern und Jugendlichen geht es zum Teil äußerst schlecht. Sie haben fürchterliche Dinge erlebt, sind allein, haben hier nicht nur keine Familie, sondern überhaupt kein soziales Netz und verhalten sich dann oft nicht so, wie wir das gerne hätten. Nämlich dankbar, demütig und lieb.

Im Gegenteil: Sie sind irritiert, fühlen sich nach wie vor bedroht, sind misstrauisch bis paranoid und daher oft nicht leicht zu betreuen. Ein Zwölfjähriger, der in Syrien erlebt hat, wie neben ihm Leute umgebracht wurden, möchte auch hier ein Messer einstecken haben, das darf uns nicht wundern. Auch Flüchtlingskinder wollen sich einen letzten Rest Sicherheit und Handlungsmächtigkeit erhalten. Das ist nicht schwer zu verstehen.

STANDARD: Bei traumatisierten Kindern stellt sich diese Frage nicht, aber gibt es immer einen Grund für psychische Erkrankungen?

Hochgatterer: Ich glaube, da habe ich nur eine unbefriedigende Antwort. Einen Grund gibt es klarerweise immer, aber dieser Grund kann auf verschiedenen Ebenen dingfest gemacht werden. Bei autistischen Störungen hat man früher stark bei den Müttern gesucht, was da schiefgelaufen sein könnte. Das ist natürlich Quatsch. Gerade bei Störungen, wo auf genetischer Ebene gewisse ursächliche Faktoren unstrittig sind, braucht man nicht nach Elternteilen suchen, die zum Beispiel durch ihr Erziehungsverhalten ursächlich für die Störung des Kindes verantwortlich sind. Bei Autismus oder schizophrenen Psychosen gibt es genetische Risikofaktoren.

STANDARD: Ist Medikation eine schnellere Heilmethode?

Hochgatterer: Vor allem im Spitalsbereich versuchen wir oft, gewisse Dinge rasch medikamentös zu entspannen. Obwohl ich mich als Psychodynamiker verstehe, würde ich meinen, dass es fahrlässig wäre, darauf zu verzichten. Man hilft Kindern und Jugendlichen rasch und holt sie aus ihren Krisen raus. Das heißt bitte nicht, dass es das Einzige bleiben sollte, das man für diese Kinder tut.

STANDARD: Sind die neuen Arbeitszeitregelungen für Krankenhausärzte eine gute Sache?

Hochgatterer: Vonseiten der Spitäler und Spitalserhalter ist natürlich dafür zu sorgen, dass Ärzte auf der Höhe ihrer geistigen und körperlichen Arbeitsfähigkeit sind. Dass durch die Notwendigkeit, Nachtdienste zu machen, aufgrund der neuen Arbeitszeitbestimmungen die Kontinuität und Präsenz unter der Woche nicht mehr gewährleistet ist, ist der problematische Teil der Sache. Die Kolleginnen und Kollegen, die früher trotz Nachtdienst untertags da waren und so die Beziehung zu den Kindern halten konnten, die sind jetzt oft nicht da. Sagen wir so: Die Behandlungsqualität in der Kinder- und Jugendpsychiatrie steigt durch diese Arbeitszeitbeschränkungen sicher nicht.

STANDARD: Je ungleicher eine Gesellschaft, desto niedriger die Lebenserwartung. Warum macht soziale Ungleichheit krank?

Hochgatterer: Soziale Benachteiligung macht ganz sicher krank. Was mir dazu einfällt, ist die sogenannte ACE-Studie (Vincent J. Felitti: "Adverse Childhood Experience"). Menschen, die in ihrer Kindheit unerfreuliche Erfahrungen gemacht haben – Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung –, die haben nicht nur ein weitaus höheres Risiko psychisch zu erkranken, sondern die haben ein weitaus höheres Risiko, körperlich zu erkranken und früher zu sterben als die anderen.

STANDARD: So gesehen wäre Armutsbekämpfung die beste Prävention im Gesundheitswesen?

Hochgatterer: Wenn einem Gesundheitssystem nicht nur daran liegt, seine Leistungen zu verkaufen, sondern gesunde Menschen zu haben, dann müsste man Kindern unerfreuliche Erfahrungen ersparen und darauf schauen, dass sie eine zufriedene Kindheit verbringen.

STANDARD: Es gibt auch die These, dass die Zahl unserer Freunde entscheidender ist für unsere Gesundheit als die Zigaretten, die man raucht.

Hochgatterer: (lacht) Diese Studie ist von der Tabakindustrie finanziert, oder? Das, was uns im Zusammenhang mit dem Rauchen nicht gefällt, ist der Umstand, dass Restriktion einfach hilft. Seit das Rauchen in Zentraleuropa geächtet ist, sinkt die Lungenkrebsrate deutlich.

STANDARD: Darf man sich heute in einem Krankenhaus besser fühlen, wenn man zusatzversichert ist?

Hochgatterer: Die Frage umgedreht: Sollte man sich schlechter fühlen? Weil man ein Sozialschwein ist oder weil man gemolken wird? Ich arbeite in einem großen Klinikum auf dem Land und habe nicht das Gefühl, dass es einen wesentlichen Unterschied macht. Jetzt könnte man einwenden: Natürlich muss ich das sagen. Richtig ist, dass die Zusatzversicherung eine bessere Hotelkomponente gewährleistet: Die Zimmer sind intimer, man hat beim Essen mehr Auswahl, man bekommt Zeitungen zu lesen. Aber die Transparenzregeln, was medizinische Dinge betrifft, sind mittlerweile sehr streng geworden.

STANDARD: Müssen Patienten mündiger werden?

Hochgatterer: Krank zu sein, da rede ich sowohl von somatischen als auch von psychischen Erkrankungen, heißt immer, dass man ein Stück seiner Autonomie verliert. Das wiederum heißt, dass man sich auf diejenigen, auf die man angewiesen ist, auch verlassen können muss. Da finde ich also den Ruf nach mehr Entscheidungskompetenz der Patienten überflüssig. Es geht es darum, dass wir Mediziner unsere Verantwortung menschlich korrekt wahrnehmen und mit der Bedürftigkeit derjenigen, die sich an uns wenden, sorgsam umgehen. Aber es gibt auch den Bereich, in dem die Medizin immer noch ein System ist, das Macht verwaltet.

Medizin als Geheimwissenschaft, als streng hierarchisches Gebäude. Aber der galoppierende Prozess der Aufklärung durch das Internet hat dazu beigetragen, dass sich das verändert. Die Leute können plötzlich unsere Sprache, wissen Bescheid über Diagnosen und Behandlungsmethoden, stellen unangenehme Fragen. Der Arzt muss offener werden, auch im Umgang mit seinen eigenen Zweifeln und mit der eigenen Unwissenheit. Er muss lernen mit einem mündigen Patienten umzugehen.

STANDARD: Das klingt nach einem Niedergang der Götter in Weiß. Ist es heute noch toll, Arzt zu sein?

Hochgatterer: Ja und wie! Und es ist toll, mit Kindern zu arbeiten. Kinder haben ungeheure Ressourcen und die besten Prognosen überhaupt. Es gibt also viele Erfolgserlebnisse. Zum Thema Götter in Weiß: An meiner Abteilung in Tulln haben wir von Anfang an auf göttliches Weiß verzichtet. Wir tragen Zivilkleidung. Das einzige Weiß an meiner Abteilung ist Tanja, unser Therapiehund.

STANDARD: Ihre Romane sind voll von traumatischen Geschichten. Ist Schreiben Ihre Art, mit dem, was Sie erleben, besser umzugehen?

Hochgatterer: Das Schreiben ist vor allem etwas, das einen klüger macht, weil es die eigenen Denkprozesse strukturiert. Beim Schreiben zum Beispiel über Kinder lerne ich sehr viel. Was das Schreiben allerdings nicht erleichtert, ist der Umgang mit jenen Gefühlen und Affekten, die in einem entstehen, wenn man mit traumatisierten Kindern zu tun hat. Sich die Wut, Verzweiflung und Traurigkeit wegzuschreiben, das gelingt oft nicht.

STANDARD: Was macht Sie wütend?

Hochgatterer: Mich macht so allerhand wütend. Zum Beispiel, dass es immer noch zu lange dauert, bis schwer traumatisierte Kinder einen Therapieplatz bekommen. Wütend macht mich, dass es immer noch magersüchtige Mädchen gibt, die erst ins Krankenhaus kommen, wenn sie schon halbtot sind.

Mich macht wütend, dass es immer noch Eltern gibt, die ihre Kinder prügeln. Aber Wut ist auch super. Der Irrtum, dem viele Menschen unterliegen, ist, dass wütend zu sein bedeutet, dass man jemand anderem etwas antut. Wenn sich jemand wie ein Idiot verhält und ich mit demjenigen eine kurze destruktive Fantasie durchspiele, fühle ich mich überhaupt nicht schlecht. Es ist eine Fantasie, sonst nichts. Die nicht zugelassene Wut und der nicht zugelassene Zorn, die machen wirklich destruktiven Stress. Sie sehen: Wenn es um meine Wut geht, bin ich gut versorgt. (Mia Eidlhuber, Cure, 9.9.2015)