Labormaus "Agnes" wurde in der Arthroseforschung eingesetzt.

Foto: IEMM Münster

Mus musculus muss alles aushalten. Die landläufig als Hausmäuse bekannten Nager dienen in unzähligen Laboren als Versuchstiere für biologische, pharmazeutische und medizinische Studien. Sie werden mit Viren infiziert, genetisch manipuliert, mit neuen Medikamenten traktiert oder bekommen sogar Tumorzellen implantiert.

Der britische Schriftsteller Douglas Adams setzte den Labormäusen in seiner Romanserie "Per Anhalter durch die Galaxis" ein literarisches Denkmal. Die Vierbeiner treten darin als die heimlichen Herrscher der Erde und Bauherren unseres Planeten auf. Ihr Gebären unter den Augen der Gelehrten hat lediglich deren Manipulation zum Zweck. Homo sapiens als Studienobjekt in einem globalen Verhaltensexperiment.

Adams' Fantasie mag uns einen Zerrspiegel vorhalten, in einem Punkt liegt der Autor nicht weit von der Wahrheit entfernt: Die Rolle der Nager wird oft völlig falsch eingeschätzt. "Mäuse sind keine Menschen", betont die kanadische Onkologin Michelle Ghert.

Übertragbarkeit von Ergebnissen umstritten

Was wie eine Binsenweisheit klingt, scheinen Forscher zu wenig zu beachten. Sie setzen Mäuse als sogenannte Tiermodelle ein, um Humankrankheiten zu untersuchen und neue Behandlungsmethoden zu testen. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse lässt allerdings sehr zu wünschen übrig. Weniger als acht Prozent der Wirkstoffe, die zuvor mit vielversprechenden Resultaten an Tieren erprobt wurden, finden später als zugelassene Medikamente in der Praxis Anwendung (vgl.: Nature, Bd. 477, S. 526).

"Es ist ein sehr sensibles Thema", sagt Michelle Ghert, "man will nicht darüber reden." Dennoch wird Ghert regelmäßig mit der Problematik konfrontiert. Die an der McMaster University in Hamilton, Ontario, tätige Expertin ist auch Mitglied im Gutachtergremium des Canadian Institute of Health Research. Als solches bekommt sie stetig Finanzierungsanträge auf den Tisch.

Die Wissenschafter sind de facto gezwungen, Tierversuche als Teil ihrer Studien durchzuführen, meint Ghert. Sonst sei es auch schwierig, Fördergelder zu erhalten. Keine Mäuse, keine Scheine, ließe sich stark vereinfacht sagen. In-vivo-Tests an Nagern und anderen Vierbeinern stünden in dem Ruf, eine unerlässliche Stufe im Forschungsprozess zu sein. Aber: "Dadurch bekommt man Antworten über Tiere, mehr nicht."

Gene und ihre Mutationen

Die Hauptursache für die mangelhafte Vergleichbarkeit liegt im Erbgut, wie Ghert erläutert. "Unser genetischer Aufbau ist so unterschiedlich." Das hat gerade im Bereich der Krebserkrankungen weitreichende Folgen. Das unkontrollierte Zellwuchern wird bekanntlich in erster Linie durch Mutationen ausgelöst. Tumorentstehung ist gleichwohl ein extrem komplexer Prozess, bei dem viele Faktoren zum Zug kommen.

Nicht nur die körpereigene Immunabwehr mit ihren eventuellen Störungen spielt eine Rolle, sondern auch das unmittelbare Umfeld, in dem die Geschwulst wächst – die Blutversorgung, der Gewebetyp. So etwas kann in Mäusen nicht naturgetreu nachgebildet werden, erklärt Ghert. Abgesehen davon seien die Tiere in einer Art physiologischem Ausnahmezustand. "Sie stehen unter Dauerstress."

Oft reagieren Mäuse auch auf Medikamente komplett anders als Menschen. Ein unter Spezialisten geradezu berüchtigtes Beispiel sind die Matrix-Metalloproteinase-Inhibitoren, kurz MMPI. Deren Zielmoleküle, die MMP, sind Enzyme mit strukturregulierender Wirkung auf Proteingebilde wie die Kollagenfasern in diversen Membranen.

Das Immunsystem studieren

Sie sind an der Gestaltung des extrazellulären Milieus beteiligt und somit am Eindringen von Tumoren in angrenzende Gewebe und an der Entstehung von Metastasen. MMP befreien Krebszellen praktisch von ihren Fesseln. Zudem beeinflussen sie das Immunsystem und hemmen unter anderem die Apoptose, die vorprogrammierte Selbstzerstörung geschädigter Zellen.

Kein Wunder also, dass MMP-Inhibitoren wie Tanomastat zunächst als hoffnungsvolle Kandidaten bei der Suche nach Wirkstoffen zur Behandlung von Krebs galten. Doch die Rechnung ging bisher nicht auf. Trotz positiver Ergebnisse im Tierversuch zeigte der Einsatz von MMPI beim Menschen nicht den gewünschten Effekt – oder es traten gravierende Nebenwirkungen auf. "Sie sind zu toxisch", sagt Michelle Ghert. Bei Patienten mit kleinzelligem Lungenkrebs führte die Verabreichung von Tanomastat sogar zur verstärkten Metastasenbildung.

Ghert fordert einen generellen Kurswechsel. Tierversuche verschlingen astronomische Summen und dauern häufig zu lange, meint die Wissenschafterin. Viel sinnvoller wäre es, potenzielle Wirkstoffe in niedrigen Dosierungen an Patienten zu testen. Solche "Phase 0-Studien" könnten dank moderner Analysetechnik Aufschluss darüber geben, wie eine Substanz im Körper metabolisiert wird und ob sie dort das gewünschte molekulare Ziel erreicht. Ein weiterer vielversprechender Ansatz sei die Entwicklung neuartiger Zellkulturen, die wie menschliche Organe in Mikroformat aufgebaut sind. "Wir müssen umdenken, um voranzukommen."

Neue Mäusespitäler

Eva Schlecker, Immunologin am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, kann Gherts Kritik nicht ganz nachvollziehen. "Gewiss, Tierversuche haben ihre Einschränkungen, sagt die Forscherin, "doch eine echte Alternative gibt es im Moment nicht. Die Maus ist die schnellste Lösung." Sie biete die Möglichkeit, Wirkstoffe in einem lebendigen Organismus zu erproben, ohne dabei Menschen Risiken auszusetzen.

In den vergangenen Jahren wurden bei der Verbesserung von Tiermodellen große Fortschritte gemacht. Sogenannte GEMMs, genetisch modifizierte Mäuse mit eingebauten, krebsfördernden Genvarianten, bieten Einblick in die Entstehung und Ausbreitung unterschiedlicher Tumortypen. PDX-Tiere dagegen haben ein defektes Immunsystem und bekommen menschliche Krebszellen eingepflanzt.

Diese Modelle sind vor allem für das Erproben von Medikamenten an humanen Tumorgeweben geeignet. Sogar menschliche Immunzellen lassen sich inzwischen in Mäuse übertragen.

In den USA wurde vor kurzem das "co-clinical trial project" gestartet. Seine Initiatoren wollen präklinische Tests und klinische Studien enger miteinander verknüpfen. Eine wesentliche Rolle sollen dabei "Mäusespitäler" spielen, in denen die Nager so weit wie möglich dieselbe Behandlung wie die Krebspatienten erhalten sollten. Die Idee bietet gute Perspektiven für personalisierte Therapien, meint Schlecker. Durch die Verpflanzung von krankhaftem Gewebe in PDX-Mäuse lassen sich praktisch Kopien von individuellen Krebsherden anfertigen. "Ein Tumor hat nicht eine Mutation oder zwei, sondern mehrere", betont sie.

Dementsprechend sinnvoll sei es, ihn mit mehreren Medikamenten gleichzeitig zu behandeln, was aber das Risiko, dass Nebenwirkungen auftreten, erhöht. Auch dieses könne durch den Einsatz von Tiermodellen schneller abgeschätzt werden. "Es ist ein richtiger Weg." (Kurt de Swaaf, Cure, 25.8.2015)