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Im Visier der türkischen Justiz: Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

Ankara/Athen – Am Tag, als die türkische Führung den Krieg gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und die kurdische Arbeiterpartei PKK beschloss, ging auch ein Schreiben an die Funktionäre der Regierungspartei AKP hinaus. Die Parteimitglieder sollen sich auf neue Parlamentswahlen einstellen, mahnte der frühere Innenminister und jetzige AKP-Vizepräsident Besir Atalay in dem zwei Seiten langen Schreiben vom 23. Juli. Siegesgewiss fügte er hinzu: Die psychologische Überlegenheit der Partei sei wieder hergestellt.

Offiziell verhandelt die konservativ-islamische AKP von Staatschef Tayyip Erdogan weiter mit den Sozialdemokraten der CHP über die Bildung einer großen Koalition. Delegationen beider Parteien loteten diese Woche Gemeinsamkeiten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Die AKP hatte bei den Parlamentswahlen im Juni erstmals ihre absolute Mehrheit verloren.

Parteipolitisches Interesse

Doch Atalays Schreiben an die Funktionäre bestärkt in der Türkei all jene in dem Glauben, die Kehrtwende gegenüber dem IS und vor allem die Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden diene rein parteipolitischen Interessen: Erdogan wolle in einem Klima der inneren Unsicherheit Neuwahlen ansetzen und die Niederlage vom vergangenen Juni korrigieren.

Türkischen Journalisten hatte der Staatspräsident auf dem Flug zu einem Arbeitsbesuch nach Indonesien am Donnerstag auch klargemacht: Koalitionsregierungen sind unnützlich. "In den letzten 20, 30 Jahren sind Koalitionsregierungen maximal dreieinhalb Jahre an der Macht geblieben. Einige sind innerhalb von 16 Monaten aufgelöst worden", wurde Erdogan zitiert. "Wenn die Koalitionsgespräche Ergebnisse bringen, dann bringen sie es. Andernfalls sollten wir sofort den nationalen Willen befragen, damit das Volk entscheidet und wir diese Situation loswerden." Eine Minderheitsregierung der AKP soll dann bis zu Neuwahlen regieren, erklärte Erdogan.

Weiter im Amt

Die Frist für die Bildung einer neuen Regierung unter dem geschäftsführend amtierenden Premier Ahmet Davutoglu läuft am 24. August aus. Danach kann Erdogan Neuwahlen ausrufen, vermutlich für Ende November. Die AKP-Regierung wäre dann ungeachtet ihres Stimmenverlusts im Juni weitere fünf Monate im Amt geblieben.

Offensichtlich auf Weisung der türkischen Führung hat die Justiz nicht nur gegen Selahattin Demirtas, den Ko-Vorsitzenden der kurdisch dominierten Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ermittlungen eingeleitet: Am Freitag eröffnete die Staatsanwaltschaft auch gegen seine Mitvorsitzende Figen Yüksekdag Untersuchungen wegen "Propaganda zugunsten einer terroristischen Gruppe" ein; damit ist die verbotene PKK gemeint, mit der der türkische Staat seit 2012 über eine Friedenslösung verhandelt hatte. Die HDP schaffte bei den Wahlen am 7. Juni erstmals den Sprung ins Parlament mit 80 Abgeordneten und nahm Erdogans AKP damit die absolute Mehrheit.

Verbale Angriffe Erdogans

Der Staatspräsident griff auf seiner Auslandsreise auch erneut den HDP-Chef an. Demirtas' Bruder sei ja schon in den "Bergen", sagte Erdogan; bei der ersten Gelegenheit werde auch Selahattin Demirtas dorthin rennen. In den Kandil-Bergen im Nordirak hat die PKK ihren Sitz; Demirtas' Bruder Nurettin soll sich in den vergangenen Jahren der Untergrundarmee angeschlossen haben.

In sozialen Medien in der Türkei zirkulierte nach Erdogans Äußerung ein Video von Vizepremier Bülent Arinç. Der hatte 2012 Verständnis für die PKK signalisiert und erklärt, er wäre als Kurde wohl auch in die Berge gegangen. (Markus Bernath, 31.7.2015)