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Türkische Sicherheitskräfte in Ceylanpinar unweit der syrischen Grenze. In den vergangenen Tagen gab es über 1.000 Festnahmen.

Foto: AP / Emrah Gurel

Bagcilar, das Arbeiterviertel weit im Westen Istanbuls, wo die Straßenbahn nach einer Stunde Fahrt vom Zentrum endet, ist so ein Fleck auf der Karte des "Islamischen Staates" (IS). Halis Bayancuk alias Abu Hanzala, ein junger Mann mit Rauschebart und weißem wallendem Gewand, lebt dort mit seiner Frau und versorgt die Terrormiliz mit neuen Rekruten, so heißt es.

Als die türkische Polizei vergangene Woche frühmorgens anklopfte, nahm sie das Ehepaar gleich mit. Bayancuk ist eines der wenigen mutmaßlichen IS-Mitglieder in Istanbul, das nun in Haft sitzt. Die Behörden kennen ihn, der regierungstreuen islamischen Tageszeitung "Star" hat er auch schon ein Interview gegeben. Der "Emir von Al-Kaida" in der Türkei wurde er zeitweise genannt.

Warnung vor Angriff auf IS

Bayancuk, ein selbsternannter Imam, der aus Diyarbakir stammen soll, hatte die Türkei schon davor gewarnt, den IS in Syrien anzugreifen. Auch in Ankara soll er gepredigt haben, in ebenjenem Stadtviertel, das schon im September 2014 durch einen Bericht der "New York Times" zum Politikum wurde. Hacibayram heißt es, nach dem mittelalterlichen Dichter und Gründer eines Sufiordens.

Das Viertel mitten in der türkischen Hauptstadt sei eine Drehscheibe für alle junge Türken, die zum IS nach Syrien fahren wollen, hieß es in dem Bericht. Tayyip Erdogan tobte damals tagelang gegen die "NYT" und deren Korrespondentin. "Schamlos" nannte er den Bericht, Islam habe nichts mit Terrorismus zu tun, und ebenso wenig leiste die Türkei Terroristen Hilfe.

Wichtige IS-Leute bereits geflüchtet

Als nun die Razzien gegen mutmaßliche IS-Mitglieder begannen, nahm die Polizei auch in Hacibayram 15 Personen fest, mehrheitlich Syrer. Am Dienstag wurden alle wieder auf freien Fuß gesetzt. Die anderen, wichtigeren IS-Leute seien zuvor schon geflüchtet, behaupten Oppositionsmedien.

Die Internetportale des IS in der Türkei – wie "Tevhidi Gündem" und "Darul Hilafe" – sind seit Mitte des Monats oder spätestens seit der Entscheidung zum Militärschlag am 23. Juli geblockt. Doch die Festnahmewelle gegen mutmaßliche IS-Mitglieder scheint bereits weitgehend zum Stillstand gekommen zu sein. Unter den 1.050 Festgenommenen zu Wochenbeginn machen mutmaßliche Unterstützer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK oder ihrer Jugendorganisation YDGH den weitaus größten Teil aus.

Auch von den Luftangriffen auf IS-Stellungen erfährt die türkische Öffentlichkeit mittlerweile nichts mehr. Die Verlautbarungen auf der Webseite der türkischen Armee beziehen sich nur noch auf Kampfhandlungen mit der PKK.

"Dreifache Bedrohung"

Der amtierende Premier Ahmet Davutoglu versuchte am Mittwoch vor den Abgeordneten seiner Fraktion den Eindruck zu zerstreuen, es ginge der Regierung in erster Linie um den Kampf gegen die Untergrundarmee PKK und die kurdisch dominierte Parlamentspartei HDP. Führende Regierungspolitiker wie Bülent Arinç sprachen in der anschließenden Parlamentsdebatte einmal mehr von der "dreifachen Bedrohung" der Türkei durch die PKK, die linke Terrorgruppe DHKP-C und den IS. Staatschef Erdogan hatte am Vortag den Friedensprozess mit den Kurden für beendet erklärt und zur Strafverfolgung seines politischen Gegners, des HDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtas, aufgerufen.

Ein führender AKP-Politiker brachte am Mittwoch bereits einen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Demirtas beim Parlamentspräsidenten ein. Dabei ging es aber um den Vorwurf des Wahlbetrugs, den Demirtas vor der Parlamentswahl im Juni gegen die AKP erhoben hatte.

Ankara unterzeichnete am Mittwoch offiziell ein Abkommen mit den USA über die Öffnung der Militärbasis von Incirlik nahe Adana. Viel Unterstützung finden die geschäftsführende Regierung und der Staatschef nicht für ihren plötzlichen Kurswechsel. Die Türken sind sich einig, dass der Militäreinsatz in Syrien dem Land weit mehr schadet als nutzt. 61 Prozent der AKP-Wähler, 75 Prozent der Anhänger der Rechtsnationalisten der MHP und weit über 80 Prozent der CHP- und HDP-Wähler sind dieser Ansicht laut einer Umfrage des Metropoll-Instituts.

Unterschiedliche Sichtweisen

Je nach Parteizugehörigkeit gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie schlimm die Gegner sind: Bei AKP- und MHP-Wählern rangieren die syrischen Kurden knapp hinter dem IS, bei den Sozialdemokraten ist er mit weitem Abstand der gefährlichste Gegner an der Grenze. (Markus Bernath aus Istanbul, 30.7.2015)