Eine Tänzerin bereitet sich im Ambiente von "a second step to Ideal Paradise" im Wiener Weltmuseum schon auf den nächsten Schritt vor: die Performance am Ende des Impulstanz-Festivals.

Foto: Karolina Miernik

Wien – Es sei unmöglich, andere Kulturen zu verstehen, hat der französische Choreograf Jérôme Bel einmal festgestellt. Nachsatz: "Wir verstehen ja nicht einmal die eigene." Bel, der den Umbruch im zeitgenössischen Tanz Ende der 1990er wesentlich beeinflusste, war bereits Gast im Wiener Weltmuseum, in dem die österreichische Künstlerin Claudia Bosse nun im Rahmen von Impulstanz ihre Installation a second step to Ideal Paradise eröffnet hat.

Vor zwei Jahren gab es unter dem Motto "Occupy the Museum" einen ersten Tanz zwischen dem Festival und dem einstigen Völkerkundemuseum. Zeitgenössische Wiener Performanceschaffende konnten mit Schätzen aus der rund 200.000 Objekte umfassenden Sammlung des Hauses arbeiten. Außerdem waren ausgewählte Stücke zu sehen, darunter Jérôme Bels vieldiskutiertes Duett Pichet Klunchun and myself.

Von Ideologie zum Terror

Bosses über sechs Museumsräume verteilte Installation ist jetzt ein Beleg dafür, dass ihr Künstlerkollege einen sehr wunden Punkt getroffen hat. Und eine adäquate Antwort auf diesen Treffer. Scharfsichtig formuliert sie das Format der musealen Ausstellung um: Jeder der von ihr gestalteten Räume steht unter einem spezifischen Thema. Dabei geht es unter anderem um kulturelle Projektionen, Territorialdenken, die Verwandlung von Ideologie in Terror sowie um die Unterfütterung kolonialistischer Entdeckungs- mit auch anderer Lust.

Das ist ein großes Angebot auf Basis einer radikalen Entscheidung: Bosse verzichtet vollständig auf "sensationelle" Exponate und bietet stattdessen als Mehrwert einen Riesenvorrat an Assoziationsmaterial an. Dafür verwendet sie unter anderem auch Bilder, die vom Museum bereits zur Entsorgung vorgesehen waren. Sie konfrontiert die Sammlungsobjekte mit aus billigem Material selbst hergestellten Übertragungen von Skulpturen und Fetischanalogien. Überdies importiert sie Mittel aus Bühneninszenierung und bildender Kunst, etwa Lichtchoreografien, Rauminszenierungen oder Toneinspielungen.

In a second step to Ideal Paradise gibt es weder korrekten Paternalismus noch vermittelnde Didaktik. Dem Publikum wird nichts vorgekaut, dafür gibt es knappe, hinführende Information im Begleitheft. Ein Zeichen von Respekt, aber auch eine Anregung, sich allgegenwärtigen Serviceangeboten zu entziehen und so Assoziationsspielräume zu erhalten.

Bosses kritische Positionen sind klar lesbar, aber sie werden nicht als moralisierende Schaubilder aufgestellt, sondern nisten sich über die Erfahrung des gesamten Kunstwerks langsam in den Köpfen der Besucherinnen und Besucher ein. Mit solchen Maßnahmen komplettiert a second step to Ideal Paradise das Weltmuseum mit der Idee einer europäischen Selbstethnologie: Die "anderen" sind wir selbst.

Womit sich die weiterführende Verbindung zu Jérôme Bel ergibt. Hier erfährt sich die "eigene" westliche Kultur in ihrer abgründigen Ambivalenz und unheimlichen Komplexität. Erst danach ist etwas über "andere" Kulturen zu lernen. Für das Museum birgt dieser Zugang, zu sehen bis 16. August, sicherlich interessante Anregungen.

In einem historischen Raum anderer Art intervenieren Lisa Hinterreithner und Jack Hauser. Sie haben die Werkstätten des Odeons, die nach dem Ableben der Serapions-Mitgründerin Ulrike Kaufmann verwaist sind, in einen geheimnisvollen Performanceort verwandelt. In diesem Mezzanin werden Dinge lebendig gemacht. Im Gegenzug nehmen die Choreografin und der Künstler Eigenschaften von Objekten an.

Hauser ist als Bewohner eines Stoffrollenlagers zu erfahren, der mit aufgerissenen Augen durch das Publikum starrt. Hinterreithner sitzt wie hypnotisiert auf einem Tisch und wird von einer Flasche mit lila Farbe bespuckt.

Ein Sessel wird zur Kleist'schen tanzenden Marionette und zu einem Musikinstrument. Und mit ein wenig Hilfe wächst er sich zu einer mobilehaften Hängeskulptur aus. Und aus einer Box springen Knöpfe, die auf dem Boden ein Knöpfeuniversum bilden. Wie bei Bosse wird auch hier das Andere der eigenen Kultur in den Köpfen des Publikums lebendig. (Helmut Ploebst, 29.7.2015)