Es ist faszinierend, die divergierenden und vielfach gegensätzlichen Einschätzungen zum "griechischen Drama" zu lesen, und das nicht nur bei Fachökonomen. Dazu zwei Kostproben: Wenn Professor Ulrich Brand von der Uni Wien meint, "entgegen der allgemeinen öffentlichen Debatte kamen die meisten konstruktiven Vorschläge von der griechischen Regierung" (im STANDARD vom 4. Juli), kontrastiert das etwas mit der Aussage des Chefkoordinators der Eurogruppe Thomas Wieser, wonach "die griechische Seite den Eindruck vermittelt hat, unseriös zu verhandeln oder gar auf unseriöse Weise überhaupt nicht zu verhandeln" (Wiener Zeitung, 18. Juli).

Interessant auch der mit "Brutale Gläubiger haben das Eurozonenprojekt demontiert" überschriebene Kommentar in der Financial Times, dem unmittelbar Gideon Rachmans Kolumne folgt, in der dieser meint, wenn wer kapituliert habe, dann Deutschland, das sich grundsätzlich zu einem weiteren Multimilliarden-Bailout Griechenlands bekannt hat.

In diesem Wirrwarr scheint es nützlich, sich einige einfache, aber grundlegende politische und ökonomische Sachverhalte ins Gedächtnis zu rufen: Europa (als Kürzel für die EU und die Eurozone) setzt sich aus grundsätzlich souveränen Staaten zusammen, die einen Teil ihrer Souveränität bis auf weiteres durch verschiedene Vertrags- und Regelwerke an Europa abgegeben haben. Die Politiker dieser Länder werden auf nationaler Ebene gewählt und sind gleichzeitig Entscheidungsträger in wichtigen europäischen Gremien.

Diese schwierige Gemengelage zwischen nationalen und europäischen Kompetenzen verlangt als erstes Prinzip genaue Regelungen der Entscheidungsprozesse und der Eckpunkte des Entscheidungsrahmens, zu denen in der Eurozone z. B. die Maastrichtkriterien oder das Statut der EZB gehören. Zweites Prinzip: gegenseitiges Vertrauen und der Verzicht jedes Mitgliedslandes, Entscheidungs- und Obstruktionspotenziale bis an die Grenze auszureizen. Dazu kommt als drittes die Berücksichtigung nationaler politischer Notwendigkeiten, soweit mit dem europäischen Regelwerk vereinbar.

Zwischen Griechenland und der Eurozone ging es daher nicht nur um einen Richtungsstreit über Strukturreformen, Budgetsanierung und nachhaltige Steuer- und Sozialsysteme, sondern um die Aufrechterhaltung der drei für das politische Überleben Europas grundlegenden Prinzipien, die von der Syriza-Regierung von Anfang an mit Füßen getreten wurden. Daher stand das Match in der Eurogruppe auch 18:1, und daher gab es keine Konzessionen mehr.

Dass Ökonomen der Strategie des "Spieltheoretikers" Varoufakis Anerkennung zollten, ist beschämend für den Berufsstand. Die Forderung nach mehr Solidarität zwischen den Ländern der Eurogruppe ist ehrenhaft, stößt aber im gegenwärtigen europäischen Governancesystem rasch an innenpolitische Grenzen, wie man auch in Österreich sieht.

Wenn sich die durchschnittliche öffentliche Verschuldung als Anteil am BIP bei 100 Prozent bewegt und wenn Grenzen für den Einsatz der Notenpresse bestehen, gibt es keine Alternative zur Austeritätspolitik im Sinne einer nachhaltigen Budgetkonsolidierung. Dann hat die Politik den Primat über die Märkte endgültig verloren. Ohne glaubhafte Budgetregeln und länderspezifische Konsolidierungsprogramme ist die nächste Krise durch massive Zinssteigerungen programmiert. Sehr wohl besteht die Alternative zwischen einer intelligenten, von Wachstum fördernden Strukturreformen begleiteten und Zukunftsinvestitionen ermöglichenden Austeritätspolitik und einer unintelligenten. Das muss Kernpunkt zukünftiger wirtschaftspolitischer Diskussionen sein und nicht die medienwirksame, aber dümmliche Auseinandersetzung zwischen Vulgär-Neoliberalismus und Vulgär-Keynesianismus.

Staatsschuldensanierung und Strukturreformen bringen vorübergehend soziale Härten mit sich. Es ist primär die Verantwortung des einzelnen Staates, wie er damit umgeht. Hätte die griechische Regierung, statt die Ärmsten ihrer Bürger zu Geiseln ihrer Chaospolitik zu machen, für eine Krankenversicherung für jeden Bürger gekämpft und dafür die Steuerschrauben angezogen und Militärausgaben gekürzt, hätte sie Verständnis in der Eurozone gefunden.

Ob die nun wahrscheinlich gewordene Vermeidung eines Grexit eine für Europa und die Eurozone gute oder schlechte Wendung darstellt, wird die Zukunft weisen. Viel hängt von der Bereitschaft Athens zur Umsetzung der Reformen ab und damit von der Fähigkeit, ausländische Investitionen zu attrahieren. Hans-Werner Sinn sieht im Verbleib Griechenlands in der Eurozone eher Konkursverschleppung und spricht sich für eine "atmende" Währungsunion aus, die Austritte und Wiedereintritte ermöglicht. Das scheint plausibel, solange nur kleinere Länder betroffen sind. Politische Parteien, die für den Austritt ihres Landes aus der Währungsunion plädieren, werden es nach den jüngs- ten Ereignissen wohl schwerer haben, die Wähler zu überzeu- gen. Und das ist gut für die Eurozone. (Erhard Fürst, 24.7.2015)