Frauen, die in einer Partnerschaft Gewalt erleben, berichten oft von einem Gefühl von Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Scham, Wut und Angst, bisweilen auch Todesangst.

Die Speichen des Rades umfassen jene Strategien, mit denen der Täter seine Partnerin einschüchtert und unterdrückt.

Foto: theduluthmodel.org

Ausgelöst von der Twitter-Kampagne #whyistayed bzw. #whyileft war die Frage "Warum bleibst du bei ihm?" vielerorts präsent. Anlass für die Kampagne war ein Video, das zeigte, wie Football-Spieler Ray Rice seine Verlobte Janay Palmer bewusstlos schlägt. Einige Tage später heiratete sie ihn – und nicht die Frage nach seinen Gründen zur Gewalt, sondern nach ihren, die Gewalt auszuhalten, stand im Vordergrund. Über Twitter erzählten daraufhin tausende Frauen ihre Geschichte, warum sie bei ihrem gewalttätigen Partner geblieben sind und welche Gründe für sie ausschlaggebend für die Trennung waren.

Die eine Erklärung gibt es nicht. Die Tweets veranschaulichen, wie vielschichtig die Gründe dafür sind, warum Frauen bei ihrem gewalttätigen Partner bleiben. Auch Frauenhausbewohnerinnen sehen sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, warum sie so lange beim gewalttätigen Partner geblieben sind. Für Bekannte, aber auch für professionelle HelferInnen kann es schwer sein, das zu verstehen. Wie also sehen die Dynamiken in gewalttätigen Beziehungen aus, die ein Ausbrechen so schwierig machen können?

Häusliche Gewalt hat System

Im Unterschied zu anderen Gewaltformen, wie beispielsweise einer Schlägerei in einem Gasthaus, ist Gewalt an Frauen in Partnerschaften ein komplexes System, in dem Macht und Kontrolle eine große Rolle spielen. Gewalttätige Übergriffe sind hier keine spontanen, aus der Situation auftretenden Gewalttaten. Vielmehr haben Täter Strategien, um Macht und Kontrolle über ihre Partnerin auszuüben.

Ein Modell, das das Verstehen von Dynamiken in Gewaltbeziehungen zum Ziel hat, ist das sogenannte Power and Control Wheel. Es wurde im Rahmen des Domestic Abuse Intervention Project (oder Duluth Model) aus den Erfahrungen von Betroffenen entwickelt. Körperliche und sexuelle Gewalt sind die sichtbarsten und bekanntesten Formen von Gewalt an Frauen in Partnerschaften. Sie werden im Power and Control Wheel als Radriemen symbolisiert. Die Speichen des Rades umfassen jene Strategien, mit denen der Täter seine Partnerin einschüchtert und unterdrückt.

Ein komplexes System aus emotionaler Abhängigkeit, Herabwürdigung, Abweisung, Beschuldigung, finanzieller Abhängigkeit, Isolierung, Zwang und Drohung wie auch das Missbrauchen von Kindern als Druckmittel und das Ausnutzen von Privilegien als Mann ermöglichen dem Täter durch das Schaffen permanenter Angstgefühle und Bedrohung Macht und Kontrolle über seine Partnerin auszuüben. Für Frauen, deren Leben sich in diesem Rad dreht, scheint ein Ausweg aus der gewalttätigen Beziehung oft unmöglich.

Wenn aus ein mal eins zwei wird

Frauen erleben in einer gewalttätigen Beziehung nur selten einen einzelnen Übergriff. Vielmehr spricht man in diesem Zusammenhang von der sogenannten Gewaltspirale, also sich immer wieder wiederholenden Phasen, die durchlaufen werden und schließlich in einem neuen Übergriff gipfeln. Die Abstände zwischen den gewalttätigen Übergriffen werden immer kürzer. Und die Gewalt wird immer intensiver.

Die Gewaltspirale zeigt weitere Aspekte auf, die beim Verharren in gewalttätigen Beziehungen eine Rolle spielen. Nach dem ersten gewalttätigen Übergriff sind oftmals sowohl Täter als auch Betroffene erschrocken über die Tat. Der gewalttätige Partner bereut, entschuldigt sich, bemüht sich um die Betroffene und verspricht, dass das nie wieder vorkomme. Für Betroffene ist diese Phase, in der die Beziehung als stabil und positiv wahrgenommen wird, oft ausschlaggebend dafür, die Beziehung aufrecht zu halten. Sie schürt die Hoffnung, dass es wieder so wird wie früher, ohne Gewalt. Wenn das Umfeld von der Gewalttat weiß, bestärken Verwandte und Freunde oftmals die Hoffnung der Betroffenen, dass das ein Ausrutscher war und nicht mehr vorkommen wird.

Doch in der Folge kommt es zu einer Verschiebung: Der Täter macht die Betroffene verantwortlich für das Geschehene. Auch hier spielen mögliche Reaktionen der Umwelt eine nicht unwesentliche Rolle. Dass den Betroffenen auch Schuld an der Gewalttat gegeben wird, ist leider keine Seltenheit. Sie habe ihn wohl provoziert, ist ein häufiger Vorwurf. Schleichend fühlt sich die Betroffene selbst schuldig. Wenn sie in Zukunft ihren Partner nicht mehr verärgere, dann würde er auch nicht mehr gewalttätig sein – der Gedanke ist für viele Betroffene ein ständiger Begleiter. Bis zur nächsten Situation, in der sich der Täter hilflos fühlt und wieder zuschlägt, um sich obenauf zu fühlen, um "Herr der Lage" zu sein.

Gewalt und Trauma

Ein weiterer Aspekt rund um das Warum für das Bleiben in gewalttätigen Beziehungen ist das traumatische Erleben von Gewalt und dessen psychische Folgen, allen voran die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Frauen, die in der Partnerschaft Gewalt erleben, zeigen keine ungewöhnlichen psychischen Reaktionen, sondern reagieren ebenso wie Menschen mit anderen traumatischen Erlebnissen, die keinen Ausweg sehen (können).

Frauen, die in einer Partnerschaft Gewalt erleben, berichten oft von einem Gefühl von Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Scham, Wut und Angst, bisweilen auch Todesangst. Quälend ist auch das anhaltende Bedrohungsgefühl, das sich in Überwachsamkeit oder massiver Schreckhaftigkeit zeigt. Besonders unerträglich ist sexuelle Gewalt. Frauen, die sexuelle Gewalt durch ihren Partner erleben, erfahren statt Intimität und Zärtlichkeit in einer Beziehung Entwürdigungen und Schmerzen, verbunden mit dem Gefühl von Betrug, ist es doch der Partner, der sie demütigt und verletzt.

Gewalt als traumatisches Erlebnis kann ein scheinbar destruktives Verhalten wie Verharmlosung, Anpassung oder Gehorsam der Betroffenen nach sich ziehen. Das hat eine Schutzfunktion und dient dem vermeintlichen Aufrechterhalten von Sicherheit, für sich selbst und/oder für die gefährdeten Kinder – ein Versuch, um weitere Eskalationen zu verhindern. Es sind die psychischen Folgen von Beziehungsgewalt, die besonders Frauen, die jahrelang gedemütigt und misshandelt worden sind, den Weg aus der Gewalt so schwer machen. Sie werden beispielsweise bei Polizeieinsätzen öfters beobachtet, wenn Betroffene die Gewalt vor den ExekutivbeamtInnen leugnen oder abtun. Destruktives Verhalten als Folge der psychischen Belastungen kann sich auch in der Flucht in Alkohol und Drogen oder in einem Selbstmordversuch zeigen.

Eine Frage, viele Antworten

Die Gründe, warum der erste Schritt aus einer gewalttätigen Beziehung oftmals so schwer ist, sind also vielschichtig. Wie weiter oben bereits beschrieben wurde, spielt psychische Gewalt in Form von Erniedrigung, Drohung und Unterdrückung dabei eine wesentliche Rolle, ebenso wie die psychischen Folgen von Gewalt in der Partnerschaft.

Aber auch in der Gesellschaft liegende Faktoren sind Teil der Antwort. Tradition, Religion und Familie können mit ein Grund sein, warum Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Die Vorstellung, dass eine Frau ihren Mann nicht verlassen dürfe, prägt dabei ebenso wie die Angst, den Kindern durch die Trennung den Vater wegzunehmen oder selbst die Kinder zu verlieren. Auch finanzielle Abhängigkeit ist ein wesentliches Hindernis. Ist der gewalttätige Partner der Allein- oder Hauptverdiener, wird es für Betroffene noch schwieriger, sich aus der Gewaltbeziehung zu befreien.

Zwischen Morddrohungen und Liebesbekundungen

Zu all diesen Faktoren kommen die Strategien und das Verhalten des Täters beim Trennungsversuch erschwerend hinzu. Manche Täter isolieren die Betroffene, schließen sie ein, zerstören das Telefon und nehmen ihr Geld und Papiere weg. In einem Tweet mit dem Hashtag #whyistayed beschreibt eine Betroffene ihre Erfahrung: "I tried to leave the house once after an abusive episode, and he blocked me. He slept in front of the door that entire night."

Manche Täter drohen mit Mord und/oder Selbstmord, wie der folgende Tweet veranschaulicht: "He'd shot my dog. Said I'm next if I threaten to leave him again." Besonders häufig sind es jedoch nicht die Drohungen, mit denen der gewalttätige Partner die Betroffene zur Rückkehr überreden kann, sondern die im Kontext der Gewaltspirale bereits skizzierten Entschuldigungen, Liebesbekundungen und das Versprechen, sich zu bessern, sowie Appelle an ihre Treue und ihr Mitgefühl.

Das Zusammenwirken der Belastungen, die im komplexen System der Gewalt an Frauen in Partnerschaften zum Tragen kommen, macht den ersten Schritt aus der Gewaltbeziehung oftmals so schwer.

Warum schlägst du sie?

Betroffene begleitet die Frage, warum sie in der Gewaltbeziehung geblieben sind, oftmals lange Zeit, auch nach der Trennung, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen. Mit der Frage wird ein Gefühl reaktiviert, das mit ein Grund für das Bleiben in der Beziehung war: Schuldgefühle. Wenn es um Gewalt an Frauen in Partnerschaften geht, schwingt oft der implizite Vorwurf mit, dass Frauen, die beim gewalttätigen Partner bleiben, auch ein Stück selbst Schuld an ihrer Situation sind. Alle hier aufgezeigten Faktoren werden ignoriert. Die Verantwortung wird auf die Betroffenen übergewälzt – wie es selten bei Gewalttaten der Fall ist.

Die Frage "Warum schlägst du sie?" würde die Verantwortung dahin tragen, wo sie hingehört: zum Täter, der für die Misshandlungen verantwortlich ist. Hier muss angesetzt werden, hier müssen Veränderungen erfolgen, um weitere Gewalt verhindern zu können. (Silvia Samhaber, 22.7.2015)