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Das Salz in der Wunde ist in Prévosts Roman die Rache. Ein Mann kehrt aus der Provinz nach Paris zurück, begleicht alte Rechnungen und kommt gesellschaftlich ganz oben an. Unser Bild zeigt den Schauspieler Robert Taylor 1937 in Paris.

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Kennst du dich eigentlich, Crouzon?" Kennt sich Crouzon, dieser junge Student der Rechtswissenschaft, der den sinnigen Vornamen Dieudonné, von Gott gegeben, trägt, überhaupt? Er lernt an sich gleich in der ersten Szene des 1934 erschienenen und nun sorgfältig ins Deutsche übersetzten Romans "Das Salz in der Wunde" eine neue, andere Facette kennen. Die als Ausgeschlossener, als Geächteter.

Aus einer falschen Anschuldigung eines Freundes folgt eine kurze tätliche Auseinandersetzung, die jeden Weg zurück, in einen versöhnlichen Status quo ante verbaut, nicht zuletzt wegen emotionaler Rigidität. Und die zur Konsequenz hat, dass Crouzon, dieser so talentierte und so vielversprechende angehende Jurist aus einfachen Verhältnissen, aus allen seinen freundschaftlich-bürgerlichen Pariser Bezügen und beruflichen Bezugsnetzen geschleudert wird und, es ist das Jahr 1924, in der Provinz neu anfangen muss.

Er findet eine kleine Anstellung in einer Kleinstadt im geografisch mitten im Herzen von Frankreich gelegenen Département Indre als Anzeigenakquisiteur für politische Abgeordnete, die ihre Wiederwahl organisieren. Was ihn über Wasser hält, was ihn antreibt, ist Rache. Unbändige Rache an jenen zu nehmen, die ihm per von einigen lässig gehandhabten, von anderen gleichgültig praktizierten Ostrazismus eine Karriere verbauten.

Er arbeitet pausenlos, er ist rücksichtslos gegen sich selber. Rasch steigt er auf. Bald wird er selbstständig. Akquiriert eine Druckerei. Wird Werbepostille- und Zeitungsverleger. Wird im Provinzgespinst, und la France profonde ist damals so fern von Paris gewesen, als sei Letzteres Spitzbergen, Spindoktor avant la lettre. Wobei die Propagandawinkelzüge, die er einsetzt, sich erstaunlich wenig von heutigen Marketingmanövern und Parteischarmützeln unterscheiden. Crouzon wird wohlhabend, ja richtiggehend reich. Am Ende, mit den Attitüden der Provinzler unter der Hand zynisch umgehend, wird er Abgeordneter des Départements. Und empfängt in Paris, süffisant sie erniedrigend, die einstige Freundesclique, die nun bei ihm um Arbeit, Anstellung und Protektion ansucht.

Psychopathologischer Machiavellismus

Es ist eine autobiografisch eingefärbte Etüde in psychopathologischem Machiavellismus, die Jean Prévost, geboren 1901, in den 20ern Werbemanager in der Provinzpolitarena und 1944 als Résistant von den Deutschen erschossen, erzählt. Prévost ist ein Autor, dessen Name heute selbst in Frankreich trotz einiger Neuausgaben in den 1990er-Jahren nicht vielen etwas sagen dürfte. Alles andere als zufällig betitelt hat sein Sohn Pierre 2002 sein Porträt des Vaters "Retrouver Jean Prévos", das im kleinen Verlag der Université de Grenoble herauskam. Zu früh ist der außerordentlich produktive Autor gestorben, der ab 1925 nahezu jährlich ein Buch herausbrachte, über Themen vom Vergnügen des Sports bis zu Montaigne, sowie für Zeitschriften schrieb und mit Hemingway boxte.

Einer wie er, seit 1930 Mitarbeiter der angesehenen "Nouvelle Revue Française", hätte sich erst recht in der Literaten- und Intellektuellenrepublik nach 1945 durchgeboxt, zwischen Romain Gary, André Malraux, Roger Nimier und Françoise Sagan. Andererseits ist, was Crouzon so befeuernd an- und manisch umtreibt, diese durch Mark und Bein gehende Demütigung und narzisstische Kränkung, psychologisch nicht übermäßig überzeugend ausgearbeitet und zu sehr einem schlicht umgesetzten Freudianismus verpflichtet.

Die französische Literatur zwischen den zwei Weltkriegen findet heute nur schwer noch den Weg zum Lesepublikum. Paul Valéry, André Gide, Léon-Paul Fargue, Valery Larbaud sind literarhistorische Schemen. Manches wie der "renouveau catholique" eines Paul Claudel oder Georges Bernanos ist nur noch marienaltartauglich, anderes, die Werke des Kommunisten Louis Aragon oder die Prosa der rechtsextremen Antisemiten Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu de la Rochelle, Robert Brasillach, ideologisch abstoßend und moralisch durchweg degoutant.

Der Rest wird übertönt durch Unterhaltung und den medial raumgreifenden Michel Houellebecq, weniger durch Patrick Modiano, den letzten französischen Literaturnobelpreisträger. Dieses Übertöntwerden ist besonders bedauerlich im Fall von Eugène Dabits "Hôtel du Nord" von 1929, das Marcel Carné 1938 mit Louis Jouvet und der Arletty sehr frei verfilmte. Dabit, Autor bei Gallimard wie auch Prévost, widerfuhr nach seinem frühen Tod Ende August 1936 – er starb während einer Rundreise durch die stalinistische Sowjetunion, die ihm, dem unkämpferischen Sozialisten, die Sprache verschlagen hatte, auf der Krim an Typhus – mit gerade einmal 38 Jahren Ähnliches wie ein Jahrzehnt später Prévost: Sein Werk wurde vergessen, nahezu ein halbes Jahrhundert lang.

Dabits Roman ist eine Zeitreise. Zurück in ein Paris, präziser in das zehnte Arrondissement, in dem die großen Boulevards, die Parks, die großbürgerlichen eleganten Stadtpalais weit, weit entfernt sind. Vielmehr trifft man vor und in dem Hôtel du Nord am Quai de Jemmapes Rosskutscher an, Gepäckträger, Dienstmädchen, Armenhäusler.

Der Gastraum als Wohnzimmer

Es ist das Paris der kleinen Leute, der Proletarier ohne proletarisches Bewusstsein. Das Etablissement, das das Ehepaar Lecouvreur als Novizen im Gastgewerbe zu Beginn des Buches übernimmt, ist ein billiges Wohnhotel mit kleinen möblierten Zimmern ohne Komfort oder Heizung, dafür mit WC auf dem Gang. Handwerker, einfache Angestellte und Fabrikschlosser mieten sich ein. Der Gastraum ist ihnen Wohnzimmer mit sozialer Anbindung. Getrunken, geplaudert und ausdauernd Karten gespielt wird hier.

Dieser Roman, Dabits bis heute bekanntester und langlebigster, ist ein warmes Buch, ein menschliches und ein humanistisches, dabei durch und durch konkret. Sofort wird man hineingezogen. Dabits Eltern leiteten seit 1923 das reale Hôtel du Nord, er half als Nachtwächter aus. Und beobachtete. Große Sympathien hegt er für seine Figuren. Und das sind gar nicht wenige. Im Gegenteil: eine ganze Kavalkade. Eine Abfolge an Ereignissen setzt ein, Abstürzende, die wie zwei Dienstmädchen naiven Auges in ihr Lebensunglück laufen und auf dem Strich enden, Ehen, die an Kälte zugrunde gehen, Arbeiter, deren materielle Besitztümer einen Koffer füllen. Es gibt Affären und Todesfälle und Feiern, auch die Jagd auf Homosexuelle und den Einbruch der Politik in Gestalt von Anarchisten. Allein war Dabit mit einem solchen Hotelkaleidoskop nicht, Joseph Roth, Vicki Baum, Arnold Bennett erzählten zur selben Zeit davon, allerdings eher von Grand Hotels.

Das ist fern jeglicher Folklore, fern aller Paris-Klischees. Vin rouge und Aperitifs werden zwar getrunken, aber nur zum Kartenspielen. Und zum Vergessen. Dafür gibt es Vergewaltigungen, Verstörungen, grassierende Verzweiflung, blanke Not. Es ist ein Mikrokosmos, den Dabit mit festem, sicherem Strich umreißt, der mit dem Zweiten Weltkrieg und dann mit der Konsum- und Mediengesellschaft der 50er- und 60er-Jahre ausradiert wurde und endgültig verschwand. So wie das reale Hotel, das fast demoliert worden wäre.

Die Eltern Dabits konnten es noch bis 1943 betreiben, dann mussten sie aufgeben. In den folgenden 50 Jahren wäre das Gebäude mehrfach ums Haar rabiaten Quartierumbauplänen zum Opfer gefallen. Seit 1993 steht es unter Denkmalschutz. Infolge des (im Studio gedrehten) Films von Carné ist es Anziehungspunkt cinephiler Touristen. Sie wie wir anderen sollten aber viel mehr und viel intensiver diese von Julia Schoch, die auch ein informatives Nachwort beifügte, sehr gut übersetzte Epopöe des Volkes – im Jahr 2012 wurde der 1929, im Erscheinungsjahr von "Hôtel du Nord", gestiftete Prix du roman populiste, für volkstümliche Romane, dem ersten Preisträger zu Ehren umbenannt in Prix Eugène Dabit du roman populiste – lesen. Immer wieder. (Alexander Kluy, Album, 20.7.2015)