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Die Griechenland-Krise ist eine Krise des Großgruppenprojekts Europa.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Krisen sind für Psychologen nicht nur deshalb besonders spannend, weil sie die Chance auf Veränderung in sich bergen. Sie sind auch darum so bedeutsam, weil in Krisen meist die Identitätsfrage aufbricht. Krisenintervention und -bewältigung sind das Gebot der Stunde.

Doch wer nicht immer wieder den gleichen Konflikt befeuern möchte, der ist dringend aufgefordert, die Auslöser der Krise zu lokalisieren. Nun, welche Identität hat Europa und welche gruppendynamischen Schlussfolgerungen lassen sich aus der derzeitigen "Griechenland-Krise" ziehen?

Alphatier Deutschland

Europa steht auf zwei Säulen: dem Frieden und einer stabilen Währung. Diese Ziele und Werte werden vor allem von den Wirtschaftsmotoren der Eurozone verfolgt und mit allen Mitteln verteidigt. Offiziell und auch informell spielt Deutschland den Leithammel dieser Mission.

Das kapitalistische Kredo heißt: Wirtschaftswachstum, und alles ist gut. Die Führungsrolle Deutschlands in Europa ist nicht zu überhören. Für den Gruppenanalytiker ist aber nicht die Alpha-Position die wichtigste, sondern die Außenseiterposition, bekannt als Omega. Ironischerweise orientieren sich die Gruppenpositionen, benannt von dem Österreicher Roul Schindler, am griechischen Alphabet.

Griechenland als Gruppenschatten

Alle Werte einer Gemeinschaft, die mit den Zielen nicht konform gehen, müssen verdrängt, wenn nicht sogar abgespalten werden. Der Außenseiter verkörpert den Gruppenschatten. Der Prügelknabe in der Schule kann sich oft mit den Verhalten der Anführer nicht identifizieren, und wenn er dann noch laut dagegen rebelliert, muss er ausgestoßen werden.

Deutschland und die nordöstlichen Eurostaaten fordern im Gewand der Oberlehrerin Budgetdisziplin. Griechenland konnte sich seit seinem Beitritt in die Eurozone diesem Ziel nicht anschließen. Die Werte klaffen hier weit auseinander. Die derzeitige Krise wird ausschließlich auf die Misswirtschaft von Griechenland zurückgeführt. Das ist aus der Sicht Deutschlands verständlich. Aus der Sicht des Gruppenanalytikers jedoch gefährlich und einseitig.

Europas Wert lässt sich nicht in Euros bemessen

Versteht sich Europa tatsächlich als Friedensprojekt, dann wäre es höchste Zeit, die Frage nach den Werten zu stellen. Europa ausschließlich im Wert des Geldes zu bemessen wäre unmenschlich und kalt. Jeder weiß, wie einsam das Leben werden kann, wenn sich die Identität am Einkommen misst.

Europa sollte sich dieser Identitätsfrage stellen. Um nicht zu unterkühlen, wäre es dringend angesagt, wärmere Klimazonen in den Wertediskurs einzubeziehen. Eine stabile Währung ist nicht der alleinige Garant für Frieden.

Europa muss wieder atmen und beherzt werden. Und Europa muss wieder aufeinander hören. Der derzeitige Außenseiter Griechenland zeigt Europa seine verborgenen Werte auf. Werte, die Wirtschaftswachstum und Leistung ergänzen können. Fragen wir Griechenland nach seinen Werten. Griechenland gehört zu Europa. Also hören wir dem griechischen Volk endlich zu! Die Griechenland-Krise ist eine Krise des Großgruppenprojekts Europa. (Nicolai Gruninger, 22.7.2015)