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Begegnung zweier Waldameisen: Hier werden chemische Stoffe ausgetauscht. Die Tiere kommunizieren nämlich ausschließlich über Gerüche.

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Die aus Deutschland stammende Evolutionsbiologin Sylvia Cremer ist seit 2010 am IST Austria in Klosterneuburg bei Wien tätig.

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Wenn Ameisen aneinander knabbern, dann ist das eine der innigsten Formen sozialer Interaktion im Insektenreich: Dann befreien sich die Artgenossen von allerhand Krankheitserregern, Pilzen, Bakterien oder Viren, die sich an der Körperoberfläche festsetzen und binnen weniger Tage zum Tode führen würden. Das Abknabbern zählt zu jenen gemeinschaftlichen Immunisierungen unter diesen Insekten, mit denen sich die Evolutionsbiologin Sylvia Cremer am IST Austria in Klosterneuburg bei Wien beschäftigt.

Andere Abwehrstrategien zeigen Züge, die an menschliche Vorsorge gegen Krankheitserreger erinnern: Waldameisen zum Beispiel desinfizieren ihr Nest mit Baumharz, das wie eine antimikrobielle Schutzschicht wirkt. Darüber hinaus strukturieren sie ihre Kolonien so, dass die wichtigsten Tiere im Zentrum leben und die unwichtigeren eine Art lebenden Schild vor Eindringlingen bilden.

Die Ameisenkönigin lebt im Zentrum der Kolonie und verlässt es nie. Sie interagiert nur mit wenigen Jungtieren, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anstecken können, weil auch sie das Nest kaum verlassen.

Je älter die Insekten werden, desto größer ist ihr Aktionsradius – dann gehen sie auch nach draußen, um Futter zu suchen. Das sind dann jene Arbeiterinnen, die von Menschen gesehen werden und das Bild der fleißigen Ameise prägen – das im Übrigen gar nicht stimmt. Die Insekten sind nämlich "ziemlich faul", wie Cremer dem STANDARD sagt. "Wir sehen höchsten zehn bis zwanzig Prozent einer Kolonie, die auf den Beinen sind. Die anderen sind im Nest, wo die meisten schlafen."

Erstarktes Immunsystem

Das Knabbern an den Artgenossen hat noch eine andere Wirkung, die Forscher bisher kaum beachtet haben. Ameisen, die einen befallenen Artgenossen gereinigt haben, verfügen über ein "hochgeboostetes Immunsystem", wie Cremer sagt. Sie vergleicht diesen Nutzen mit dem einer Impfung beim Menschen: "Durch eine verhältnismäßig minimale Infektion wird eine Immunabwehr provoziert, die beim Kontakt mit den gleichen Krankheitserregern einen Schutz bietet." Es sei also durchaus legitim, in diesem sozialen Akt des gegenseitigen Putzens (Grooming) auch eine Überlebensstrategie zu sehen.

Cremer ist fasziniert von der Tatsache, dass Ameisen in einer Kolonie "von vielleicht fünf Millionen Artgenossen umgeben sind, sich aber, gewarnt durch Gerüche und durch ein verstärktes Putzverhalten, ausgerechnet um das kranke Tier kümmern" – wie Krankenpfleger. Nun will sie gemeinsam mit ihrem Team der Frage nachgehen: Wenn die Insekten nach dieser Immunisierung geschützter sind, gehen sie dann auch anderen Aufgaben nach?

Vorsprung in der Evolution

Interessant wäre aus Cremers Sicht noch ein anderer Aspekt: Dass Ameisenkolonien dank der beschriebenen Strategien gut und lange "funktionieren", ist bekannt. Königinnen von Waldameisen werden bis zu 25 Jahre alt. Aber kann man diese Erkenntnisse auch auf andere "Gesellschaften" umlegen? Die Wissenschafterin meint: "Wir lernen sehr viel über Krankheitsverläufe." Mittels Computersimulationen von Epidemiologen könne man sogar vorhersagen, wie viele Tiere bei gleichbleibendem Verhalten krank werden.

Ameisen hätten im Umgang mit Krankheitserregern darüber hinaus einen leichten Vorteil gegenüber dem Menschen: "Es gibt diese Insekten schon deutlich länger auf der Erde als uns. Sie hatten also genug Zeit, sich mit ihren Pathogenen gemeinsam zu entwickeln." Der Mensch handle aufgrund seines Instinkts und seines Wissens meistens richtig, um die Berührung mit Krankheitserregern zu vermeiden. Kritisch seien natürlich niedrige Hygienestandards bezüglich der Verbreitung von Bakterien, Pilzen oder Viren. Der internationale Handwashing-Day habe immerhin schon viel bewirkt.

"Unmengen" im Labor

Cremers Lieblingsthema bleiben aber die Ameisen. "Ich kann mir nicht vorstellen, jemals andere Insekten zu erforschen", sagt sie. "Der Stoff für neue Arbeiten wird uns nicht so schnell ausgehen." Dabei untersucht sie mit ihrem Team nur drei bis vier Ameisenarten – kaum vorstellbare 14.000 sind bisher bestimmt. "Wahrscheinlich sind aber noch einige Tausend unbekannt", sagt die Wissenschafterin.

Im Labor in Klosterneuburg leben ihren Angaben zufolge "Unmengen". Das heißt? Sechs Inkubationsschränke sind voll mit Nestboxen, von denen es zweierlei gibt: jene mit größeren Ameisen, wo 2.000 Tiere Platz haben, und jene mit der kleineren tropischen Ameisenart Cardiocondyla obscurior mit etwa 10.000 Artgenossen. Und sie bleiben auch dort: Ein schlichter Trick verhindert, dass die Ameisen, wenn die Boxen bei der Arbeit geöffnet werden, Reißaus nehmen.

Die Innenwände der Behälter werden mit einer teflonartigen Flüssigkeit beschichtet. Für Ameisen dürfte das wie ein Weg über eine spiegelglatte Fahrbahn sein – unüberwindbar.

Arbeiterinnen werden Mörderinnen

Mit der winzigen Cardiocondyla obscurior hat Cremer übrigens schon überraschende Forschungsarbeiten abgeschlossen. Vor mehreren Jahren zum Beispiel, als mit einem Paper das Image der Ameise als soziales Insekt gehörig angekratzt wurde. Cremer hatte erkannt: Die männlichen Tiere patrouillieren in der Kolonie unermüdlich, um gerade geschlüpfte Jungtiere zu kontrollieren. Handelt es sich dabei um Jungköniginnen, mit denen man sich paaren könnte? Oder ist es ein männlicher Artgenosse, der einmal ein Konkurrent sein würde?

Im letzteren Fall wird das Männchen, sofern es sich erwischen lässt und sich nicht rechtzeitig mit weiblichen Duftstoffen tarnt, mit einem chemischen Stoff markiert, der Arbeiterinnen zu Mörderinnen macht: Sie beißen dem männlichen Artgenossen Beine und Kopf ab. Cremers blumige Worte für diese Grausamkeit: "Die Männchen machen sich bei diesem Angriff nicht einmal selbst die Finger schmutzig."

"Asoziale Verhaltensmuster" beobachtet die Wissenschafterin ansonsten nur in weniger blutrünstigen Momenten. Infizierte Ameisen neigen nämlich dazu, sich selbst auszuschließen und von der großen Masse der Krabbler zurückzuziehen. Wirklich asozial? Vielleicht, aber auch zutiefst menschlich. (Peter Illetschko, 15.7.2015)