Es ist schon ein ungewohntes Gefühl: Man steigt auf dem Hauptplatz aus, der Bus macht kehrt um den Dorfbrunnen und braust davon. Dann umfängt einen Stille – oder eher: wenige Geräusche auf einer Grundierung von Stille. Das dünne Gesirre von ein paar Bergdohlen, das Geplätscher des Brunnens, die Fahrgäste, die sich entfernen, die eigenen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.

Es riecht nach Stall, Heu und Kuhdung – wie man sich eben vorstellt, dass es auf dem Land zu riechen hat. Überhaupt erinnert in Guarda, das rund 35 Kilometer östlich der Schweizer Stadt Davos liegt, so gut wie alles an überbelichtete Werbefotos für Sommerfrische aus den 1950er-Jahren.

Kaum ist der Postbus um die Ecke gebogen, kehrt Stille ein.
Foto: Dominik Taeuber

Eben erst hat man sich mit einem der putzigen rot angefärbelten Regionalzüge der Rhätischen Bahn durchs waldige, schluchtige Graubündner Bergland hinaufgeschlängelt, ist durch einen ziemlich langen Tunnel und auf der anderen Seite im Unteren Engadin herausgekommen. Ist am altmodischen Bahnhof von Guarda ausgestiegen, hat maximal eineinhalb Minuten auf den gelben Bus, das Postauto, gewartet, der sich sogleich die Serpentinenstraße zur Ortschaft hinaufgearbeitet hat.

Alles hat seine Zeit

Und da steht man jetzt, auf einem Hauptplatz, der von wuchtigen Bauernhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert umstanden ist. Sie sind mit Wappen, Sgraffitti und Motti à la "Tuot ha seis temp" – "Alles hat seine Zeit" – in der rätoromanischen Mundart Vallader verziert. Kann sich eigentlich nur um eine Filmkulisse handeln, denkt man, so gut erhalten, so homogen wie das Ensemble ist. Eine Hauptstraße, die zwar mit Autos befahren werden kann, das aber nicht wird, weil’s viel zu steil ist hier herauf und zu eng hier oben. Ein paar Plätze, an denen sich die Häuser rund um einen Brunnen scharen. Ein zu einem Stall gehörender Balkon, von dem aus Ziegen auf die Vorbeigehenden herunterschauen. Kein Sportartikelgeschäft, keine Boutique, keine Geschäftsschilder – von den paar Schildern abgesehen, die Gasthöfe ("ustaria"), Privatzimmer ("chombra") oder Ferienwohnungen ("abitaziun da vacanzas") anzeigen.

Engadiner Fußbodenheizung

Guarda ist im Dreißigjährigen Krieg von habsburgischen Truppen niedergebrannt worden. Die Häuser wurden in den Jahrzehnten nach 1648 wieder aufgebaut, daher das einheitliche Erscheinungsbild. Der alte Engadiner Stil hat einen unteren Eingang in den Viehstall und einen oberen in die – wesentlich kleineren – Wohnräume, die durch die Stallwärme einen Stock tiefer eine Fußbodenheizung hatten. Nicht ganz so klein: Das Eingangstor und der Sulèr – der Vorraum – waren immerhin groß genug, dass man mit dem Tragliun, dem Heuwagen, hinein-fahren konnte.

Dass Guarda so ist, wie es ist, hat der Ort dem Architekten Ulrich Könz zu verdanken. Könz, dessen Familie aus Guarda stammt, ließ den heruntergekommenen Ort in den 1930er- und 40er-Jahren restaurieren. Könz’ Frau Selina Chönz schrieb ihren Namen übrigens in der rätoromanischen Schreibweise – und mit dem Schellenursli eines der bekanntesten Kinderbücher der Schweiz.

Das Plätschern des Brunnens ist oft das lauteste Geräusch auf dem Brunnenplatz von Guarda in der Schweiz.
Foto: Andrea Badrutt, Chur

Guarda war nie ein reines Bauerndorf, ganz im Gegenteil. Die frühere "Säumerstraße", der Handelsweg zwischen München und Mailand, führte hier durch, noch im Jahr 1865 gab es 13 Herbergen für das durchreisende Volk. In jenem Jahr aber wurde die Hauptstraße unten im Tal längs des Inns eröffnet, und damit geriet Guarda ins Abseits.

"Dos sind Pizokel – die Engadiner Antwort auf Spätzle, könnte man sogn", sagt der Koch im Restaurant Val Tuoi in sächselndem Deutsch, während er das Gericht – Nockerln mit Kraut, Rahm und Bergkäse – serviert. Der nächste Sachse, denkt man sich. Schon der Buschauffeur, der einen jovial-regional mit "Allegra!" grüßte, war einer. Abwanderung ist ein Thema in Guarda, aber die 160-Einwohner-Gemeinde tut was dagegen, bemüht sich um Tradition. Zwar sind von gut vierzig Bauern von vor hundert Jahren nur elf übriggeblieben, aber es gibt noch einen Schmied, drei Tischler und Zuzüglerinnen wie die Keramikerin Verena Jordan. "Museum wollen wir keines sein", sagt der Hotelier Benno Meisser.

Keine Ablenkung

Meisser führt das Unique Meisser, eines von drei Hotels im Ort, in fünfter Generation. "Die Gäste kommen nicht hierher, um Party zu machen, sondern um aufzutanken", sagt er. Folgerichtig gibt es keine Ablenkungen wie Fernseher am Zimmer, einen Swimming-Pool oder gar ein Spa. Dafür einen unter Denkmalschutz stehenden Jugendstil-Speisesaal und einen Garten mit Liegestühlen. Das Unterengadin und seine Terrassendörfer wie Guarda, Ardez oder Ftan gelten ja als besonders sonnenbegünstigt. Der Blick geht auf die Südtiroler Dolomiten, deren wilde Zacken den einen oder anderen Gast – die meisten sind gesetzteren Alters – vielleicht an sein eigenes EKG erinnert. Gut, dass die Zimmer mit Arve, sprich Zirbenholz, möbliert sind, das soll den Herzschlag senken.

Man glaubt gar nicht, wie viel sich am Himmel tut, wenn man nur so im Liegestuhl daliegt: Düstere Wolkenreihen verstopfen die Himmelsreste, und man überlegt schon, sich ins Haus zurückzuziehen. Vorhang, fünf Minuten später ist alles wieder aufgeklart. Und dort unten im Tal müssen Bahn und Straße verlaufen, aber davon ist hier nichts zu hören, die Stille pocht geradezu in den Ohren. Es bleibt jedenfalls noch ein wenig Zeit, sich dem Anblick der vielen Wiesenblumen hinzugeben.

Die Blumen blühen lassen

"Die Bauern werden ermuntert, nicht zu düngen und das Heu so spät zu machen wie möglich. Dadurch blühen Blumen, die sonst gar nicht erst herauskommen würden", sagt Niculin Meyer, der Tourismusverantwortliche des Unterengadins. Auch das kann Tourismus sein. Drei Tage in diesem unaufgeregten Lebensrhythmus, so heißt es, und man würde "runterkommen". Na schön, aber wenn man schon mal extra heraufgekommen ist nach Guarda – was tun, nachdem man sich vom Liegestuhl erhoben hat und die Dorfstraße schon ein paarmal auf- und abgegangen ist? Zum Beispiel nach Ardez spazieren.

Ardez ist die nächstgelegene Ortschaft und ebenfalls mit vielen gut erhaltenen Engadiner Häusern aus dem 17. Jahrhundert ausgestattet. Man kann auch in Richtung des drei Gehstunden entfernten Piz Buin wandern. Oder nach Scuol fahren, in den Hauptort des Unterengadins. Das geht natürlich ebenfalls mit der Bahn, die spätestens zwei Minuten kommt, nachdem einen der Bus abgesetzt hat: Der öffentliche Verkehr funktioniert selbst hier wie ein gut geöltes, präzise ineinandergreifendes Schweizer Uhrwerk.

Foto: Dominik Taeuber

Scuol ist eine hübsche, in einen oberen und einen unteren Teil gegliederte Stadt und eine weitere "Brunnengemeinde". Die alten Brunnen haben hier oft zwei Hähne, einen mit stillem, und noch einen mit kohlensäurehältigem Wasser. Scuol ist dank seiner 25 hochmineralisierten Quellen als Kurort bekannt, im Bogn Engiadina Scuol, dem städtischen Bad, kann man sich durch etliche Mineralwasser direkt aus dem Brunnen kosten.

Wenn man dann entlang von ungemähten Blumenwiesen zum Weiler Bos-Cha spaziert und von einem Paar rüstiger Pensionisten überholt wird, denkt man sich, ja, so könnte sich Sommerfrische in früherer Zeit einmal angefühlt haben, so langsam, so beschaulich. Ist natürlich eine Frage der Perspektive. Der siebzigjährige Mountainbiker, der da gerade in seinem bunten Trikot vorbeirauscht, sieht das bestimmt ganz anders. (Harald Sager, 16.7.2015)