Soziologin Judy Wajcman will Vielfalt in der Technik und ihrer Entwicklung, damit verschiedenste Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Foto: Heribert Corn

Das neue Buch von Judy Wajcman beschäftigt sich mit Zeitdruck in der technologisierten Gesellschaft.

Judy Wajcman
Pressed for Time

The Acceleration of Life in Digital Capitalism
University of Chicago Press 2015
224 Seiten, 23 Euro

STANDARD: Ihr neues Buch trägt den Titel "Unter Zeitdruck: Beschleunigung in Zeiten des digitalen Kapitalismus". Warum haben wir immer weniger Zeit?

Wajcman: Der Druck kommt eher von der Art, wie wir leben, als von der Technologie. Menschen machen ihre Smartphones dafür verantwortlich, dass sie sich unter Zeitdruck fühlen und ständig abgelenkt sind. Viele meinen, sie könnten sich wegen der Technik nicht mehr konzentrieren. Wir sind keine Opfer der Technik. Diese Technologien reflektieren aber unsere Lebens- und Arbeitsweisen, darauf wird zu wenig eingegangen. Digitale Geräte werden als Problem fetischisiert, weil soziale Probleme schwieriger zu dekonstruieren sind.

STANDARD: Wie äußern sich zeitliche Probleme in der Arbeitswelt?

Wajcman: Menschen haben in unserer Gesellschaft unregelmäßige Arbeitszeiten, sie müssen flexibel für ihren Job sein. Hinzu kommt eine immer größere Ungleichheit in Bezug auf Zeit. Menschen in Spitzenpositionen haben lange Arbeitstage. Und es gibt viele Arbeitslose, Menschen, die in Teilzeit arbeiten oder flexible Verträge haben. Die Gruppen haben völlig unterschiedliche Erfahrungen mit Zeit. Mittlerweile gibt es Webseiten und Apps, wo man jeden miesen Job eingeben kann, und jemand, der schlecht bezahlt wird, kann ihn annehmen. Reiche bezahlen andere Personen, ihnen Zeit zu ersparen. Sie verläuft für reiche und arme Menschen daher unterschiedlich schnell und ist unterschiedlich viel wert.

STANDARD: Was ist mit unserer Zeit außerhalb der Arbeitswelt?

Wajcman: In den meisten Familien arbeiten beide Elternteile, sie haben einen oder mehrere Jobs. Es gibt nicht mehr die traditionelle Mutter, die zu Hause bleiben kann. Wir haben die Möglichkeit, zu jeder Tageszeit einzukaufen. Wir leben in einer sehr desynchronisierten Gesellschaft. In diesem Kontext ist ein Telefon nur ein Tool, um das Abendessen zu organisieren.

STANDARD: Frauen sind noch immer großteils für Kind und Haus zuständig. Wie steht es um ihre Zeit?

Wajcman: Unsere Studien zeigen, dass die Personen, die unter dem größten Zeitdruck stehen, arbeitende Mütter sind. Die Erwartungen an die Zeit, die sie mit den Kindern verbringen, ist immens. Man muss sich mit den Kindern unterhalten, ihnen bei den Hausaufgaben helfen und sie erziehen. Das ist ein großer zeitlicher Aufwand. Frauen bringen diesen auf. Arbeitende Mütter verringern ihre Hausarbeit und bezahlen andere Frauen dafür, sie essen auswärts oder Fertiggerichte. Sie managen alles für die Kinder und vermissen dabei Zeit für sich. Männer haben mehr Freizeit ohne Kinder.

STANDARD: Gibt es einen Unterschied, wie Männer und Frauen Technik nutzen?

Wajcman: Blackberrys waren als Businesstools gedacht. Innerhalb kürzester Zeit wurden Mobiltelefone aber auch im Alltag verwendet: um Freunden und der Familie zu schreiben. In unserer Studie haben wir gesehen, dass die meisten Telefonate nach Schulschluss stattfinden. Mütter rufen ihre Kinder an, Eltern besprechen, wer die Kinder abholt und die Einkäufe erledigt. Frauen nutzen sie für die Organisation von Alltag und Familie. Männer eher für die Arbeit.

STANDARD: Wie beeinflussen Technologien unsere Kommunikation?

Wajcman: Oft werden Face-to-face-Gespräche und medial unterstützte Gespräche miteinander verglichen und behauptet, dass persönliche Kommunikation intimer oder besser wäre. Doch Kinder sind mit diesen Tools aufgewachsen und kommunizieren daher gleich wie bei physischer Anwesenheit. Es ist keine Frage, ob das eine oder das andere besser ist. Viele Beziehungen, die junge Menschen führen, werden durch den Gebrauch technisch unterstützter Kommunikation sogar noch wertvoller.

STANDARD: Woher kommt es, dass Menschen digitaler Kommunikation oft negativ gegenüberstehen?

Wajcman: Das war schon immer so. Denken wir an die Debatte, als das Telegramm erfunden wurde. Da gab es genau dieselben Kontroversen. Es herrschte die Angst, dass es eine Verletzung der Zeit wäre und dass sich das Bewusstsein für Zeit verändern würde. Man befürchtete, dass das Telegramm zwar die Nachrichten modernisieren und beschleunigen würde, es aber aufgrund seiner Kürze die Kommunikation banaler und auf wenige Worte verknappen würde. Ich habe diese Diskussionen nachgelesen und dachte: Das ist wie die Debatte über Twitter. Bei jeder Welle technischer Erneuerungen wurde in einer sehr dramatischen Art und Weise reagiert.

STANDARD: Wird Technik nur als Faktor für Zeitdruck gesehen?

Wajcman: Die Gesellschaft ist sehr zwiegespalten. Zwar machen die Menschen ihre Smartphones für ihren Stress verantwortlich und dafür, dass sie ständig erreichbar sein müssen; aber gleichzeitig wollen sie ihre Telefone auch unter keinen Umständen aufgeben, weil sie praktisch sind und ihnen dabei helfen, ihre Arbeit zu machen, und sie ihnen Zeit sparen.

STANDARD: Sehen Sie keine Probleme im Technikkonsum?

Wajcman: Doch. Wir müssen viel anspruchsvoller bei der Technik sein, die wir uns anschaffen. Ich will nicht, dass die großen Silicon-Valley-Unternehmen, die von jungen weißen Männern geleitet werden, unsere Zukunft bestimmen. Die Entwicklung von Technik braucht eine vielfältigere Gruppe an Menschen. Frauen, ältere und afroamerikanische Menschen sind völlig ausgeschlossen, das spiegelt sich in der Entwicklung wider. Es ist ja nicht so, dass die Silicon-Valley-Jungs absichtlich Dinge entwickeln, die etwa nicht barrierefrei sind. Aber sie denken einfach nicht daran. Durch eine diversere Gruppe an Entwicklern würden andere Bedürfnisse berücksichtigt. (Oona Kroisleitner, 8.7.2015)

Judy Wajcman (64) ist Professorin an der London School of Economics, wo sie die Fakultät für Soziologie leitet. Wajcman gilt seit Technofeminism (2004) als eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Techniksoziologie. In Wien war sie anlässlich des 650-Jahr-Jubiläums der Universität und hielt einen Vortrag bei dem Symposium "Women for Future".