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"Mit Sprache sucht sie nach Gott, ruft ihn verzweifelt an, überschüttet ihn mit Spott und Hohn, tritt nach ihm mit der Ohnmacht einer Liebenden, die nicht erhört wird": Christine Lavant.

Archivfoto (ca. 1965): picturedesk.com

Als mir Christine Lavant literarisch zum ersten Mal begegnete, war mir ihr Name schon bekannt. Ihr Name, den sie gewählt hatte, war eine Region, mit der ich Gerüche und Geschmäcker verband. Der "Lavanttaler" war mein Lieblingsapfel; es gab reichlich davon, diesseits der Koralpe, die die Steiermark von Kärnten trennt.

Der "Lavanttaler" wird auch Bananenapfel genannt, und schon als Kind hat es mich fasziniert, dass ein Apfel wie eine Banane schmecken kann. Obwohl wir nicht so arm waren wie Christine Lavant und ihre Familie, obwohl meine Eltern Bauern waren und keine Keuschler, gehörten Bananen nicht zum alltäglichen Obst. Sie waren eine Delikatesse, die es höchstens zum Nikolausfest oder zu Weihnachten gab. Aber mit dem Lavanttaler Apfel hatte ich bis in den späten Winter hinein den Luxus von Bananen.

Später, als ich aus der Enge des Dorfs hinauswollte, war der Weg über die Koralpe hinüber in das Lavanttal die größte Hürde, um das Land, wo die Zitronen blüh'n, zu erreichen. Panoramastraßen wie die Strecke über die Soboth oder die Autobahn über die Pack wurden erst viel später gebaut. Eine schmale Serpentinenstraße über die Weinebene war die kürzeste Verbindung nach Kärnten. Der Name Weinebene ist nach einem Mineral namens Weinebeneit benannt, und nie wäre dort auch nur ein einziger Weinstock gewachsen, auch von einer Ebene kann auf diesem Alpenpass keine Rede sein. Viele Vehikel schafften die schlechte Straße nicht. Oft wusste man nicht, ob der Bergnebel die Sicht versperrte oder der Rauch, der vom eigenen Gefährt aufgestiegen war.

Gestank und Gerüche

Hatte man die Weinebene aber erklommen, war Italien nicht mehr weit. Die vielen Kurven hinunter ins Lavanttal waren ein Kinderspiel, vorausgesetzt, man brachte die Bremsbacken nicht zum Glühen, denn genauso steil, wie es auf der einen Seite hinaufgegangen war, ging es auf der anderen Seite wieder hinunter.

Hatte man Wolfsberg endlich erreicht, hätte man aufatmen können, wäre da nicht Frantschach gewesen, mit seiner Papierfabrik, die einen ekeligen Gestank verbreitete, als litten sämtliche Lavanttaler an chronischem Durchfall, mit dem sie es nicht bis zum Häuschen schafften, das es damals fast noch überall gab.

Wenn man im Lavanttal wohnt, riecht man den Gestank nicht mehr, hieß es, aber ich war mir sicher, dass der Lavanttaler Apfel zu uns ausgewandert war, weil er mit der Geruchsausstoßung der Papierfabrik nicht konkurrieren wollte mit seinem feinen Aroma.

In dieser Gegend lebte also Christine Lavant, und ich frage mich, ob sie unter diesem Gestank gelitten hat. In ihrer Literatur habe ich nie etwas davon bemerkt. Bemerkt habe ich aber die Ähnlichkeit vieler Gerüche, die ich noch aus der Kindheit kenne und die sofort in mir aufsteigen, wenn ich Gedichte von Christine Lavant lese. Ebenso vertraut ist mir die Sprache ihrer Prosa, die nicht nur in der Syntax stark vom Dialekt geprägt ist, sondern auch in vielen Wörtern. So ist eine "Kotze", wie sie in Das Kind beschrieben wird, eine grobe, meist aus Rosshaar hergestellte Decke, wie man sie heute manchmal noch als Windfang in alten Kaffee- und Gasthäusern findet. Wenn der Vater wegen seiner Schwerhörigkeit nun weniger Lohn "aufhebt", dann nicht vom Boden, sondern vom Schreibtisch des Lohnbüros. Auch der schöne Ausdruck "Mode machen" hat nichts mit Kleidung zu tun, sondern meint, dass sich jemand beschweren wird.

Welt des Klosters

In der verstörenden Erzählung Maria Katharina taucht Lavant in die Welt des Klosters und der Schausteller ein. Das ausgebombte Waisenkind muss das Kloster verlassen, weil es verdorben scheint. Es wird zu Verwandten gebracht. In einem halbzerbombten Haus leben die Tante und die Großeltern, sie trinken und rauchen den ganzen Tag, essen Katzen- und Hundefleisch und schenken auch dem Kind Wein ein, wenn es Durst hat. Ein Schaubudenbetreiber versorgt die Familie und beherrscht sie zugleich. Die Tante muss mit einer seltsamen Pfeiftechnik auftreten, sich von Fremden betasten lassen und dem Budenkaiser sexuell zu Diensten sein. Der nahende Missbrauch am Kind wird spürbar, ja macht den Lesenden atemlos. Tanzen soll das Kind und bald so weit sein, um beim "Budenkaiser" aufzutreten. Maria Katharina sucht Hilfe bei der Familie. Mit "großen, ganz erwachsenen Augen" bittet sie den Großvater, er möge doch zustechen, doch der alte Mann ist betrunken, abgestumpft. Maria Katharina läuft davon und versucht noch einmal, im Kloster Unterschlupf zu finden, doch sie wird erbarmungslos abgewiesen.

Das Gefühl völligen Ausgeliefertseins in der Welt, weder in der Religion noch bei den Verwandten Schutz oder Rettung zu finden, durchzieht Lavants Prosa. Auch in die Vorstellungswelt eines geistig behinderten Kindes denkt sie sich mit meisterhafter Naivität ein. Allein die liebevolle Bezeichnung "das Wechselbälgchen" verrät die ganze Zuneigung, die Lavant für dieses außergewöhnliche Kind verspürt. Wie viel Zärtlichkeit doch in diesem Wort "Bälgchen" liegt! Niemand hat diese abwertende Bezeichnung je so liebevoll erhöht. Immer war es nur der Wechselbalg, auch ich wurde von meiner Mutter oft als ein solcher bezeichnet. Es konnte mich nur der Teufel ausgetauscht und ihr ein falsches Kind untergeschoben haben, dieser Verdacht bestätigte sich umso mehr, als ich mit meinen literarischen Tätigkeiten begann.

Wie ein Orakel

Mich interessierten als Kind aber auch die anderen Wechselbälger, die "Dodeln", wie geistig Andersartige in meiner Umgebung bezeichnet wurden. Sie hatten etwas Faszinierendes und Geheimnisvolles. "... es war nur eine Gier, einzudringen in das Seltsame und Geheimnisvolle dieses stummen Wesens, das alle Tage um sie war und doch so fremd und unzugänglich blieb, fast wie ein Stein oder ein Gewächs." Auch in meiner Kindheit gab es ein solches Kind. Sein Lallen, seine nichtverständlichen Wörter waren wie Orakel. Es war das Sprachgefängnis, das gleichzeitig Welten öffnete, die uns anderen Kindern unzugänglich waren, Blicke, die weit über das Sichtbare hinausgingen, aber auch hinein, in eine Innenwelt, oft begleitet von einem Wiegetakt und einem Lächeln, einem seltsamen Zustand von Glück. Es begeisterte mich die Fähigkeit, sich mit einer Kordel oder einem Stofflappen stundenlang intensiv zu beschäftigen.

Es ist der naive Blick, der den Reiz von Lavants Erzählungen ausmacht. Und niemand ist allwissend, jede Perspektive wird ernst genommen, niemand einer Lächerlichkeit preisgegeben. Auch das Kind denkt und handelt gleichberechtigt, seine Lebenslust und seine Verzweiflung schaffen eine unmittelbare Betroffenheit. Und immer sind es Mädchen, von Christine Lavant als "Krott" bezeichnet, Kröten also, ein auf dem Dorf üblicher Ausdruck für weibliche Kinder, die nicht der Norm entsprechen, gegen die Sitten und Gebräuche aufbegehren und Rollen nicht erfüllen. Ein anderes Wort dafür war "das Mensch".

Mit Sprache nach Gott suchen

Doch sosehr Lavant in ihrer Prosa mit dem Dialekt und mit Bildern aus ihrer unmittelbaren Erlebniswelt arbeitet, so stark verdichtet sie in ihrer Lyrik mit einer trotzigen Souveränität. Nicht nur äußerlich, ausgezehrt und mit dem im Nacken gebundenen Kopftuch als Markenzeichen, erinnert sie mich an Mutter Teresa. Keine Mutter Teresa der Taten, sondern der Worte. Mit Sprache sucht sie nach Gott, ruft ihn verzweifelt an, überschüttet ihn mit Spott und Hohn, tritt nach ihm, mit der Ohnmacht einer Liebenden, die nicht erhört wird. Sie kämpft gegen Gott, gegen die Niedergeschlagenheit, gegen die Verletzlichkeit und die Sprachlosigkeit. "Vergiss dein Pfuschwerk, Schöpfer! Sonst wirst du noch zum Schröpfer an dem, was Leichnam ist und bleibt ..."

Aber der Apfel, der in Christine Lavants Lyrik sogar Sonne und Mond erreicht, ist bestimmt ein Lavanttaler: "Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt so schön und rot vor meiner Fensterscheibe ... den Apfel nähme ich wohl gern herein und möchte heimlich an der Schale riechen, bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt ..." Ich sehe diesen Apfel, dunkelrot und mit einem violetten Stiel, der aus seinem Nabel wächst. Es duftet nach Banane, auch dann noch, wenn der Apfel längst hinter dem Horizont verschwunden sein wird. Und der Himmel schmeckt nach Banane, möchte ich Christine Lavant gerne zuflüstern, aber das weiß sie inzwischen ja längst.

In meinem Herkunftsort gräbt man jetzt einen Eisenbahntunnel. Er soll die Steiermark mit Kärnten verbinden. Er beginnt einen Spazierweg von meinem Herkunftshaus entfernt und endet einen Spazierweg entfernt von jenem Ort, in dem Christine Lavant den Großteil ihres Lebens verbracht hat. Oder beginnt der Tunnel nicht vielmehr dort, wo sie einst gelebt hat, und endet er dort, wo ich gelebt habe? Die beiden Öffnungen werden sich in der Mitte treffen, tief im Inneren der Koralpe. Bis dahin wird es noch einige Jahre dauern, und in Frantschach soll es schon lange nicht mehr stinken, habe ich gehört. (Gabriele Kögl, Album, 4./5. 7.2015)