Futuristische Optik à la Natur: Die Anatomie eines sechs Zentimeter kleinen Seepferdchens, verdeutlicht durch Einsatz des Farbstoffs Alizarin.

Foto: Dominique Adriaens, UGent

Testsieger: der rechte Greifarm nach Seepferdchen-Vorbild.

Foto: Foto: Michael M Porter, Clemson University

Clemson/Wien – Warum das Rad neu erfinden, wenn man sich auch bei den Innovationsschüben aus ein paar Milliarden Jahren Evolution bedienen kann? In der Bionik wird versucht, natürliche Phänomene in technischen Anwendungen nachzuahmen. Tiere mit ungewöhnlichen Eigenschaften sind bei Bionikern daher sehr gefragt.

Was das anbelangt, ist das Seepferdchen die reinste Fundgrube, auch wenn sich die meisten seiner Eigenarten nicht unbedingt für neue Technologien aufzudrängen scheinen. Zum Beispiel dass bei Seepferdchen die Männchen von den Weibchen "geschwängert" werden und die Jungen in einer Bauchtasche austragen. Oder die zumeist senkrechte Körperhaltung, wie sie bei Fischen nur sehr selten zu beobachten ist.

Und ihr Schwimmvermögen, das wird auch keinen Technologieschub auslösen. Im Guinness-Buch der Rekorde ist das Zwergseepferdchen als langsamster Fisch der Welt verzeichnet: Es braust mit atemberaubenden 0,0015 km/h durchs Wasser.

Die Quadratur des Schweifes

Aber da gibt es noch eine Besonderheit: nämlich den Schwanz, mit dem sich ein Seepferdchen den Großteil des Tages an Wasserpflanzen oder Korallen klammert. Greif- und Wickelschwänze haben sich in vielen verschiedenen Tiergruppen entwickelt – etwa bei Primaten oder Chamäleons. Hackt man einem solchen Tier der Forschung zuliebe den Schwanz ab, stellt man fest, dass dessen Querschnitt immer oval bis kreisförmig ist. Nicht so jedoch beim Seepferdchen – hier ist er quadratisch.

Da die Evolution ungünstige Eigenschaften mit der Zeit aussiebt und Seepferdchen seit mindestens 13 Millionen Jahren im Meer abhängen, muss diese anatomische Besonderheit einen Vorteil bieten. Das dachte sich auch Michael Porter von der Clemson University in South Carolina, der den Seepferdchenschwanz mit einem 3-D-Drucker nachbaute.

Schwanz im Belastungstest

Für einen Fisch ist ein Seepferdchen gut gerüstet. Am Schwanz besteht die Panzerung aus über 30 quadratischen Prismen, die die Wirbelsäule umschließen und untereinander durch Gelenke überaus flexibel verbunden sind. Diese Prismen setzen sich ihrerseits aus je vier L-förmigen Platten zusammen, die einander leicht überlappen. Wird diese Konstruktion von außen unter Druck gesetzt, schieben sich die Platten noch weiter übereinander. Der Durchmesser wird dadurch kleiner, die Grundform des Quadrats bleibt aber gewahrt.

Hier wird der Vorteil gegenüber einer runden Bauweise offenbar: Diese wird unter Druck verformt. Und sie behält die Verformung auch bei, wenn der Druck von außen wieder wegfällt. Eine Konstruktion à la Seepferdchen hingegen kehrt mit minimalem Energieaufwand in den Ursprungszustand zurück. All das fanden Porter und sein Team heraus, indem sie einen Schwanz mit quadratischem und einen mit kreisförmigem Querschnitt bauten und diese bogen, verdrehten, quetschten und mit dem Gummihammer auf sie einschlugen.

Auch das Greifvermögen ist dem eines zylindrischen Schwanzes zumindest ebenbürtig, berichten die Forscher im Fachmagazin "Science". Der Hauptvorteil für das Seepferdchen liegt aber in der Festigkeit der Konstruktion, da ihm diese Schutz zumindest vor kleinen Räubern bietet. Und Festigkeit in Verbund mit hoher Flexibilität ist eine Kombination, die in der Bionik Begehrlichkeiten weckt.

Potenzielle Anwendungsmöglichkeiten sieht Porter viele: von Greifarmen für Roboter, die in lebensfeindlicher Umgebung einen Rettungseinsatz absolvieren sollen, bis zu medizinischen Instrumenten, die flexibel durch den Körper navigieren und am Zielpunkt noch eine chirurgische Aufgabe bewältigen können. (Jürgen Doppler, 3.7.2015)