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Das Bild einer eigenwilligen Intellektuellen: Milena Jesenská.

picturedesk/Interfoto/Friedrich

Wien – In der Literaturgeschichte taucht zumeist nur ihr Vorname auf. An "Milena" schrieb Franz Kafka eine Menge Briefe. Kafka, für den das Zaudern Selbstzweck war, darf als begabtester Junggeselle seiner Epoche angesehen werden. Mit ihm verband Milena Jesenská (1896-1944) eine ebenso kurze wie wenig hoffnungsvolle Liebesgeschichte. Man wird sie darum nicht trostlos nennen wollen. Anfang der 1920er-Jahre lebte die Jesenská in Wien und verdiente sich als Übersetzerin (u. a. von Kafka) und Journalistin ihre Sporen.

Diagnose moralische Haltlosigkeit

Verheiratet war sie zu dieser Zeit mit dem Literaturkenner Ernst Pollak. Die Eheschließung mit ihm hatte die Tochter eines prominenten Prager Kieferchirurgen gegen Widerstände durchgeboxt, die man sich scheut, nur massiv zu nennen. Aus Eigensinn soll Milena einmal die Moldau durchschwommen haben. Der Herr Papa ließ das schwer zu bändigende, dabei hochbegabte Mädchen allen Ernstes psychiatrieren. Die Diagnose lautete auf moralische Haltlosigkeit.

Ihren Anspruch auf Pollak setzte Milena Jesenská dennoch durch. Mit den Prager deutschen Literaten wie Franz Werfel, Max Brod oder Johannes Urzidil stand sie als Exponentin der "jeunesse dorée" auf gutem Fuß. Tschechische Blätter belieferte sie später mit Reportagen, wahren Meisterwerken der Beobachtungskunst. Zurückgekehrt nach Prag, schloss sie sich in den späten 1920ern Avantgardezirkeln an und suchte zeitweise die Nähe zur kommunistischen Partei.

Gesundheitsproblemen trotzte sie mit Morphium

Milena Jesenská blieb eine unruhige Persönlichkeit. Der kurzen Ehe mit dem Architekten Jaromír Krejcar entspross eine Tochter, schweren Gesundheitsproblemen trotzte sie durch die Einnahme von Morphium. Ihre Artikel aus den aufgewühlten Sudetengebieten des Jahres 1938 gehören zu den Gipfelleistungen tschechischer Journalistik. Nach dem Münchner Abkommen tat sich Jesenská als Fluchthelferin hervor und schrieb bis zu ihrer Verhaftung am 12. November 1939 für die illegale Presse.

Die Neue Rundschau hilft dieser Tage mit, das Bild der großartigen Persönlichkeit abzurunden. 14 Schriftstücke aus der Zeit ihrer fünfjährigen Haft wurden gefunden und nunmehr ins Deutsche übersetzt. Aus diesen berührenden Zeugnissen an die Adressen von Vater und Tochter sticht ein Kassiber ganz besonders hervor: ein zweiseitig beschriebenes, hauchdünnes Stück Papier, das mitten im größten Leid von ihrer Sorge um ihre jüdischen Mitmenschen erzählt.

"Warum haben wir alle nach dem Krieg gelebt, wenn er wieder möglich ist?"

Jesenská überstand zwar einen in Dresden gegen sie angestrengten Prozess wegen Hochverrats. Dennoch überstellte man sie "zwecks Umerziehung" ins KZ Ravensbrück. Liest man Milenas Briefe aus ihren letzten, unendlich entbehrungsreichen Jahren, so sticht das wiedergewonnene Vertrauen zum Vater ins Auge. In der Widersetzlichkeit der (blutjungen) Tochter erkennt sie ihr eigenes, so schwer zu disziplinierendes Wesen wieder. Der Krieg will ihr nicht in den Kopf: "Mein Gott, warum haben wir alle nach dem Krieg gelebt, wenn er wieder möglich ist?"

Aus den wie hingehuschten Zeilen spricht nicht nur die Angst vor der Zensur. Spürbar wird die Inventur eines Lebens: "Aber wie werde ich einmal die Augen/ den Zorn der Menschen vergessen/ welchen ich begegnet bin auf all den Grenzen/ den weggebrachten Menschen, die uns nur anschauen konnten/ helfen konnten wir nicht." Zu helfen war auch Jesenská nicht. Sie starb an den Folgen einer Nieren-OP am 17. Mai 1944 in Ravensbrück. Ihren Tod wollte sie laut Auskunft ihrer Freundin Margarete Buber-Neumann bis zum Schluss nicht wahrhaben. (Ronald Pohl, 1.7.2015)