Botanische Modelle aus der Sammlung Hubert Scheibl, Detailansicht

Foto: Maximilian Pramatarov, Kunsthalle Wien

G.T. Pellizzi: "Disjecta Membra Holocenica et Anthropocenica" (2014), Detailansicht

Foto: Aurélien Mole, Courtesy galerie Loevenbruck, Paris

Wien – Kleine, dunkle Kiesel, durchzogen von einem Geflecht heller Äderchen, zersauste grau-weiß gezeichnete Vogelfedern, Blätter, die gefräßiges Getier durchlöchert haben, Knöchelchen zwischen trockenen Gräsern. Und daneben Laub, das sich, als würde es eine Pirouette andeuten, eingerollt hat. Transformationen, die das an moderner Kunst geschulte Auge an Skulpturen erinnern.

In ihrer Gesamtheit lassen diese fein säuberlich in einer Vitrine aufgereihten Fundstücke aus der Natur jedoch auch an die Archive von Herman de Vries denken: an die 473 Pflanzen etwa, die der niederländische Künstler auf einem nur 16 Quadratdezimeter großen Wiesenstück fand.

"Das hier ist allerdings kein Kunstwerk", so Michaela Maria Langenstein, eine von 20 Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Geste des Sammelns nun in der Ausstellung Individual Stories. Sammeln als Porträt und Methodologie in der Kunsthalle Wien vorstellt (kuratiert von Luca Lo Pinto, Nicolaus Schafhausen, Anne-Claire Schmitz). Langenstein nutzt die Wunder der Vegetation vielmehr für surreale Fotogramme, die im weitesten Sinn an Karl Blossfeldt anschließen. Blossfeldt versammelte seine skulptural anmutenden Pflanzenfotografien in Büchern wie dem 1928 erschienenen Urformen der Kunst.

Yann Sérandour
: "Cactus Show & Sale" (2014)
Foto: Courtesy der Künstler und Collection Enea RIghi

Sie habe einmal festgestellt, dass es eigentlich nichts Hässliches in der Natur gebe, so Langenstein. Als Künstlerin sei sie nicht einmal in der Lage, so etwas im Grunde einfaches wie einen Grashalm zu schaffen. Lediglich reproduzieren könne sie diesen. Vom Anliegen ihres Künstlerkollegens de Vries', der sich weniger als Bildhauer versteht, denn als jemand, der den Blick auf die Dinge unmittelbar vor unseren Füßen lenkt, unterscheidet sich Langenstein also eigentlich gar nicht viel.

Ihre in den 1990er-Jahren begonne Kollektion hinterfragt die Künstlerin immer wieder: etwa dann, wenn sie die Kartonschächtelchen mit den nach Kriterien der Fragilität und Ästhetik sortierten Objekten, im Kampf gegen die tierischen Winzlinge, die so eine Sammlung organischen Materials mit sich bringt, durchforstet. Und so wächst der Bestand stetig – auch weil der Blick sich ändert; das Auge erst später für gewisse Schönheiten, wie etwa die weißen Bohnenschoten, bereit ist.

G.T. Pellizzi: "Disjecta Membra Holocenica et Anthropocenica" (2014)
Foto: Stephan Wyckoff, Kunsthalle Wien

Wann ist also Schluss mit dem Sammeln? So definitiv wie bei den Panini-Pickerlalben, wo sich die Perfektion mit der letzten zugklebten Lücke vollendet, ist es in anderen Kollektionen nicht. "Man sollte überlegen, ob die Sammlung überhaupt dazu angelegt wird, vollendet zu werden, oder ob hier das Fehlende nicht eine wesentliche Rolle spielt", so Jean Baudrillard in Das System der Dinge.

Jacques André widmet sich etwa seit Abschluss der Kunstakademie konsequent der Akkumulation immergleicher Dinge – darunter etwa Iggy Pops Album Lust for Life (16×) oder Wilhelm Reichs La révolution sexuelle (ca. 100×). Das Ziel, eine komplette Auflage wiederherzustellen, dieses Trachten nach Harmonie, ist eine gigantische Utopie. Man kann das Fetisch nennen oder einen seltsamen Tick. Oder man sagt Konzept dazu: Saâdane Afif sammelt etwa alle Abbildungen von Marcel Duchamps Fountain, dem berühmten Pissoir, Mutter aller Readymades, ein Archiv, das er über eine Webseite zugänglich macht. Es ist auch ein Akt der Aneignung, eine so genannte Appropriation, denn Afif verkauft die Reproduktionen auch: er reißt die Seite aus den entsprechenden Publikationen heraus und signiert sie.

Auch im Werk von Pierre Leguillon werden die Sammlungen für neue künstlerische Arbeiten verwendet: US-Fotograf Walker Evans lichtete für seinen Arbeitgeber, das amerikanische Wirtschaftsmagazin Fortune immer wieder Geschäftsmänner ab. Aufnahmen, die Leguillon nun zusammen mit Spritzdekor-Kuchenplatten präsentiert, vermutlich weil die Heroen des Erfolgs sich an Wänden von wertkonservativen Nachkriegshaushalten ebenso dekorativ machen wie Porzellanteller. Was der Betrachter vermutlich nicht kennt, ist folgende Anekdote: Evans schlug die Künstlerische Laufbahn in Rebellion zum Elternhaus ein – sein Vater war erfolgreicher Geschäftsmann: "I was damn well going to be an artist and I wasn’t going to be a businessman", verriet er in einem Interview 1971.

im Vordergrund: Botanische Modelle aus der Sammlung Hubert Scheibl
Foto: Stephan Wyckoff, Kunsthalle Wien

Solch individuelle Sammlungen von Künstlern und Künstlerinnen wären Wissensarchitekturen, heißt es in der Kunsthalle, Filter zwischen dem Individuum und der Welt. Ganz oft illustrieren sie künstlerische Arbeits- und Denkweisen: Hubert Scheibl sammelt etwa Lehrmodelle von Pflanzen und Bakterien die Robert und Reinhold Brendel, Vater und Sohn, im 19. Jahrhundert fertigten. An ihnen interessiert Scheibl die Abstraktion von Natur, er fand in den Objekten aber auch Formen und Strukturen wieder, die ihn in seiner eigenen Malerei seit langem beschäftigen.

Foto: Stephan Wyckoff, Kunsthalle Wien

Angerissen wird in der Ausstellung auch die Vergeblichkeit des Bewahrens: Michael Riedels Sammlung von Speichermedien – 548 Minidiscs, deren Abspieltechnik sich langfristig nicht etablieren konnte – führt diesen Aspekt von Sammlungen vor Augen.

Der Philosoph Walter Benjamin – ein leidenschaftlischer Sammler von Büchern – schrieb in Ich packe meine Bibliothek aus, einer Grüblerei über die Natur des Sammelns: "Denn was ist dieser Besitz anderes als eine Unordung, in der Gewohnheit sich so heimisch machte, dass sie als Ordnung erscheinen kann?" Und: "Jede Leidenschaftgrenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen."

Problem des Anhäufens

Die wichtigste Eigenschaft von Sammlungen ist jene des Erinnerns: Museen sind sozusagen die Zentralorgane des Erinnerns. Wenn Sammeln jedoch in Akkumulation verkehrt wird, ist diese Funktion bedroht. Dann werde, so der Dramatiker und Philosoph Dominik Finkelde in seinem Essay Vergebliches Sammeln (2006), das Objekt im Kontext kapitalistischer Marktwirtschaft zum Produkt degradiert. Walter Benjamin habe dem das Sammeln des Ausgestoßenen entgegengesetzt: Kollektionen, die sich nicht vom herrschenden Diskurs vereinnahmen lassen.

Vor diesem Hintergrund könnte man die Auswahl in der Kunsthalle als Beispiel für Sammlungen des Ausgestoßenen verstehen, als kritische Alternative. Die Schau sei ein Kommentar zur gegenwärtigen Praxis des Sammelns in Museen, so Kunsthallendirektor Nicolaus Schafhausen. Dieser Kommentar ist allerdings wenig konkret. Ein Statement, wie es jener wichtige Aufsatz von Finkelde darstellt, fehlt. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 30.6.2015)