Groß, klein, rund, eckig, sichtbar, versteckt, es gibt sie massenhaft: im Bild eine der unzähligen Überwachungskameras in London, die Künstler James Bridle für "The Nor, Part One: The Wall" fotografiert hat.

Foto: James Bridle

Wer wissen möchte, was seine Mitbürger treiben, wird nicht allein den eigenen Augen trauen wollen. In den Tagen der altgriechischen Tragödie, im fünften vorchristlichen Jahrhundert, besaßen die Hellenen bereits ein recht klares Urteil über Schuldfähigkeit. In der Antigone des Sophokles verhängt Thebens König Kreon ein Bestattungsverbot über den Leichnam eines Staatsfeindes. Die Stirn bietet ihm Antigone. Ihr Frevel besteht im zweifachen Vollzug des Bestattungsrituals, ausgeführt am Leichnam ihres Bruders: zuerst im Schutze der Nacht, hernach im grellen Tageslicht, damit vor aller Augen.

Doch es sind eben nicht die Augen aller, die sich auf Antigone richten. Es ist vielmehr ein medialer Vorgang, den die Tragödie schildert. Den atemlosen Bericht von Antigones couragierter Tat liefert ein einfacher Bote: ein rechter Schlaumeier, der, um sich bei seinem Herrscher ins rechte Licht zu setzen, das besonders willfährige Instrument der Macht mimt.

Der Botenbericht besitzt eine denunziatorische Funktion. Er gleicht der Rezitation eines Überwachungsprotokolls. Dann und dann, dort und dort wurde Antigone bei der Ausführung einer ungesetzlichen Handlung betreten. Ob sympathisch oder nicht, der Wächter erfüllt, indem er Antigone vor Kreons Thron schleppt, seine staatsbürgerliche Pflicht.

Umgekehrt wäre Kreons Machtvollkommenheit auch nichts wert, würde ihm nicht ein ganzes Netz von Agenten zuarbeiten: ein Heer von namenlos bleibenden Aufklärern, die die Macht in der Illusion wiegen, sie wäre über alles im Bilde, was innerhalb ihres Geltungsbereichs passiert.

Rund zweieinhalb Jahrtausende trennen den Botenbericht der Antigone von den Datenbeschaffungsaktionen der NSA (National Security Agency). Die Angst vor der Massenüberwachung hat die Debatte gesprengt. Wurde vor nicht allzu langer Zeit über Vor- und Nachteile der Gefahrenprävention zwar besorgt, aber doch sorgsam wägend gesprochen, so wähnt man sich heute in die 1980er-Jahre zurückgeschleudert. Die Idee der lückenlosen Überwachung durch elektronische Datenkumulierer nährt, wie einst das Atomwaffenpotenzial, apokalyptische Ängste. Es wird, ob zu Recht oder nicht, der Anschein erweckt, die globale Kultur würde ihre Teilnehmer um den Genuss von Rückzugsräumen bringen. Diese sollen den Menschen als private zugehören, weshalb sie unter allen Umständen zu schützen sind.

Freiheit meint unter diesen Voraussetzungen das Vorrecht, in den Augen auch solcher Geheimdienste anonym bleiben zu dürfen, die "mich" besonders eingehend kennenlernen wollen, bloß damit sie "mich" besser vor den Gefahren des Weltterrorismus schützen können.

Die Scheu, elektronische Fingerabdrücke zu hinterlassen, bildet in diesem Zusammenhang die Kehrseite des Freiheitswunsches. Ihr Wesen ergibt sich aus dem Drang, in den Weiten des World Wide Web agieren zu können, ohne darum namentlich, das heißt unter Offenlegung der bürgerlichen Identität, profiliert zu sein.

Man kann es selbstverständlich auch wie Ilija Trojanow sehen. Dem aus Bulgarien gebürtigen Autor sprangen vor nicht allzu langer Zeit zwei Aufkleber ins Auge, die an den Türen der Wiener U-Bahn kleben. Der eine, grüne, bildet eine Überwachungskamera ab, der andere, blaue, zeigt einen Kinderwagen. Dem Benutzer des Verkehrsmittels würde, so Trojanow, nichts Geringeres bedeutet, als dass er damit rechnen muss, von der Wiege bis zur Bahre lückenlos unter Kontrolle zu stehen.

Das notorische Unbehagen über die Sammlung riesiger Datenmengen verkennt den eigentümlich gleichgültigen Charakter von Macht. Diese bringt, um sich als wirksam zu erweisen, die von ihr Beherrschten erst hervor. Sie ist, wie Michel Foucault gezeigt hat, kein Besitz, der von Generation zu Generation den Eigentümer wechselt, um als abstraktes Gut gehütet zu werden. Der Begriff der Macht meint eine Vielzahl von Effekten. Deren ganzer Zauber besteht aus Wirken und Bewirken, aus Ein- und Zugriffen, die sich umso besser bewähren, je nachhaltiger der Mensch dazu gebracht wird, zu tun, was von ihm verlangt wird.

Die Verwaltung von Macht vervielfacht das Wissen, das man sammeln muss, um das Funktionieren von Gesellschaften zu gewährleisten. Macht und Wissen pflegen deshalb miteinander ein besonders inniges Verhältnis des Austausches. Die Laborkünste gehen mit dem Ausbau der Disziplinarsysteme (Justiz, Psychiatrie et cetera) erfolgreich Hand in Hand.

Im 19. Jahrhundert dachte man in Europa daran, an den Menschen "Gewohnheiten" auszubilden – solche, die es ermöglichen, sie tagaus, tagein Lohnarbeit verrichten zu lassen. Gewohnheiten werden sozialen Gruppen auferlegt: aus Gründen der Berechenbarkeit. Umgekehrt beginnt der Apparat seinerseits, sich für die Gewohnheiten seiner Schutzbefohlenen lebhaft zu interessieren. Unzufriedenheit soll im Keim erstickt werden. Mit Anhebung der sozialen Standards werden auch die Konsumgewohnheiten empirisch erfasst. Immerhin wollen Konsumgüter massenhaft abgesetzt sein.

Die Idee der Überwachung lebt von dieser verdoppelten Anstrengung. Die Ausübung von Macht generiert Wissen. Das Wissen aber übt seinerseits Machtwirkungen aus. Die Inbesitznahme von Daten gleicht gerade in hochentwickelten Gesellschaften der Anstrengung, sich auf mehreren Schauplätzen zeitgleich zu behaupten. Die Aufhebung des zeitlichen Nacheinanders spielt für die Mächtigen nur dann keine Rolle, wenn die Felder, die gerade nicht im Blick sind, mit derselben Sorgfalt erfasst werden wie die, die in jeder Nachrichtensendung buchstäblich vor der Nase liegen.

Der wahrhaft Mächtige weiß ohnehin Dinge, vor deren Kenntnis man sich hüten sollte. Sonst ergeht es einem womöglich wie den Sowjetfunktionären, die in Michail Bulgakows Der Meister und Margarita Besuch vom Teufel erhalten. Satan sagt einem auf den Kopf zu, man werde gleich sterben. Voilà: Das Vorhergesagte tritt ein. (Ronald Pohl, 26.6.2015)