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Ein Präsident mit Faible für IT: Toomas Hendrik Ilves.

Foto: AP/Michael Sohn

STANDARD: Nach allem, was über die Überwachungstätigkeiten der US-Geheimdienste in den vergangenen Jahren herausgekommen ist, wie würden Sie das transatlantische Verhältnis und das Verhältnis einzelner europäischer Staaten zu den USA heute einschätzen?

Ilves: Es ist nicht klar, wie viel von diesen Vorwürfen tatsächlich der Wahrheit entspricht. Und wenn die deutschen Ermittlungsbehörden diesen Fall fallenlassen, dann müssen wir uns fragen: Wie sehr sind wir Opfer von Desinformation (spricht das Wort russisch aus: dezinformatsiya, Anm.)? Ich persönlich weiß es nicht.

STANDARD: Aber Sie gelten doch als einer der wenigen Staatenlenker, die in diesen Fragen wirklich sattelfest sind ...

Ilves: Ginge es politisch derzeit nicht beinahe ausschließlich um die Ukraine, würde ich wahrscheinlich all meine Zeit dafür aufwenden, über Informationstechnologie zu sprechen. Das interessiert mich, und das habe ich in meinem Land die vergangenen 25 Jahre über gemacht. Es gibt in dieser Sache ein allgemeines Missverständnis, das besagt, dass die NSA meine E-Mails liest. Es ist in der Tat äußerst schwierig, jemandes Mails zu lesen. Was sie allerdings überwachen, ist, wer mit wem redet. Und zwar mit Fokus auf terroristische Netzwerke. Ich glaube nicht, dass das so eine üble Sache ist.

STANDARD: Die Kritik entzündete sich an der Massenspeicherung von Daten. Also daran, dass de facto jeder überwacht wird.

Ilves: Das ist ja der Punkt bei der Frage, wer mit wem kommuniziert. Eine Person in den USA, mit der ich das diskutiert habe, hat mir Folgendes erklärt: Diese Wahrnehmung ist ein europäisches Problem. Und ich garantiere Ihnen, sobald die Terroristen ihre Ziele erreichen, werden alle diese Diskussionen beendet sein. Der Umstand, dass diese Methoden funktionieren, erlaubt uns den Luxus dieser Debatte. Würde sich eine katastrophale Situation ergeben, die durch diese Methoden hätte vermieden werden können, dann würde sich die öffentliche Meinung darüber rasch ändern. Es ist ein Paradox: Solange Terrorbekämpfungsmaßnahmen im eigenen Land erfolgreich sind, so lange wird es eine Opposition gegen diese Maßnahmen geben. Sobald sie sich als ineffizient erweisen, wird die Öffentlichkeit völlig anders reagieren. Aus meiner Sicht – und das ist keine Regierungsposition, sondern die jemandes, der ein wenig von Informationstechnologie versteht – bedeutet das: Es ist ein großer Unterschied, ob jemand mit hohem technischem Aufwand und viel Arbeit direkt observiert wird. Oder ob jemand mit jemandem in Hamburg spricht, der seinerseits mit jemandem in Paris spricht und der wiederum mit jemandem in Syrien spricht. Dabei weiß man nicht, was gesprochen wird, aber man kann Schlüsse daraus ziehen, wer mit wem verbunden ist. Die NSA ist aber sehr gut darin, diese millionenfachen Verbindungen zu analysieren.

STANDARD: Das heißt, viel Aufregung um das falsche Thema?

Ilves: Für mich und aus einer IT-Sicht der Dinge geantwortet: Wir legen unser Augenmerk auf die falschen Dinge. Was wirklich wichtig ist, ist "data integrity" (zu Deutsch die Konsistenz, also die Korrektheit der in der Datenbank gespeicherten Daten, Anm.). Um es deutlich zu sagen: Ich kann es gutheißen oder ablehnen, dass jemand meine Blutgruppe weiß. Was ich aber sicher nicht will, ist, dass jemand meine Blutgruppe ändert. Das sind die Dinge, denen wir viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken – vor allem, je mehr wir in eine Welt des Internets der Dinge oder der Industrie 4.0 wechseln. Dort kommunizieren Maschinen untereinander, in dieser Welt ist Konsistenz ein viel größeres Problem – Stichwort Kraftwerke und dergleichen.

STANDARD: Darüber gibt es derzeit in der öffentlichen Meinung noch keine Sorgen. Dafür aber umso mehr Ärger, dass die deutsche Bundeskanzlerin und andere von den USA abgehört werden.

Ilves: Das stimmt. Aber es zeigt sich, dass es im Falle der Bundeskanzlerin bisher keine handfesten Beweise gibt. Solange es jedenfalls keine sicheren Identitäten online gibt, wird es keine IT-Sicherheit geben. Das muss aus einer Kombination aus Chip einerseits und Passwort oder Iris und dergleichen andererseits bestehen. Die meisten Menschen würden das allerdings ablehnen. Das ist das große Problem. Es gibt Informations-Highways mit hunderten Millionen von Fahrbahnen, auf denen wir unablässig ohne Kennzeichen unterwegs sind. Deswegen passiert, was eben passiert. Und wir können die Verursacher immer nur post hoc und mit viel Aufwand identifizieren. (Christoph Prantner, 27.6.2015)