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Autor, FAZ-Herausgeber, virtuoser Debatten-Anzettler: Frank Schirrmacher (1959-2014).

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Technologischer Totalitarismus ist so etwas wie der publizistische Schwanengesang von Frank Schirrmacher. Das 300 Seiten starke Buch umfasst fast drei Dutzend Beiträge und zeigt auf, was nach dem frühen Tod des FAZ-Herausgebers im Jahr 2014 (auch) fehlen wird: Dessen immenses Geschick, substanzielle Diskussionen über die relevanten gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit anzuzetteln und für eine breite Öffentlichkeit auf das Wesentliche hin zu fokussieren. So zum letzten Mal geschehen zwischen Februar und Juli 2014 mit einer kritischen Debattenvermessung der Unschönen Neuen Digitalwelt.

Die berühmten Damen und Herren, Vordenker, Macher, Poeten, Politiker und Philosophen, die sich diesem Band zu Wort melden, sind aber samt und sonders weder technophob noch Bilderstürmer und betonen dies auch oft genug. Das Zutrauen zum Digitalen, das ist ebenfalls Common Sense, ist eine Frage des rechten Maßes. Wer nach dem Fall Snowden immer noch vom Heraufdämmern eines goldenen Digitalzeitalters träumt, muss sich sogleich von Martin Schulz, dem Anstoßgeber der Debatte, einer "naiven Fehleinschätzung" zeihen lassen.

Der deutsche Sozialdemokrat und Präsident des Europäischen Parlamentes stellt den gegenwärtigen technologischen Umbruch in eine Reihe mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts und ortet massiven Handlungsbedarf, wenn der ganze digitale Segen nicht in eine "antiliberale, antisoziale und antidemokratische Gesellschaft" münden soll. Noch hätten wir es erst "mit einer alles durchdringenden Technologie" zu tun, die sich aber durchaus mit einem totalitären politischen Willen verschwistern könnte. Wie eindringlich die Digitaltechnologie funktioniert, veranschaulicht Schulz an der Geschichte eines Pakets, das von einem Online-Händler an einen Kunden versandt wurde, bevor dieser überhaupt wusste, dass er etwas kaufen wollte.

"Mobiltelefon wegwerfen"

"Wer liest, wird gelesen, wer kauft, wird selber zum Produkt", bringt es Schirrmacher knapp auf den Punkt. Zur Abwehr einer dystopischen Überwachungs-, Kontroll- und Manipulationsgesellschaft muss die Macht von Informationskraken wie Facebook, Amazon, Apple oder Google – das Suchmaschinenimperium ist hier Hauptobjekt aller Sorgen und Bedenken – eingehegt und in verträgliche Bahnen gelenkt werden.

Das ist aber leichter gesagt als getan, zumal der Schulterschluss der Technogiganten mit den Geheimdiensten dieser Welt zu wunderbaren Überwachungssynergien geführt hat, auf die keiner mehr verzichten möchte. Hans Magnus Enzensbergers lapidarer Ratschlag "Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg" ist zwar radikal, für den auf Dauerkommunikation angewiesenen Werktätigen aber nicht praktikabel.

Jeder, der den Internetmolochen die giftigsten Zähne ziehen möchte, meint die mit gleich drei Beiträgen präsente Harvard-Professorin Shoshana Zuboff, hat auch das Problem, dass sich Google und Co einer schizophrenen Mimikry bedienen. Nach außen hin schwelgt man in den Idealen und der Rhetorik des "öffentlichen Netzes", während man ihnen in der Geschäftspraxis längst den Rücken gekehrt hat und entspannt mit der NSA kollaboriert. Auch die undurchschaubare Komplexität dessen, was in dieser Digitalwelt überhaupt abgeht, erschwert jede Regulierung. Mit guten Algorithmen, meint der Künstler-Informatiker Jaron Lanier, bremst Google jeden lokalen Gesetzgeber aus. Immerhin kann er beruhigen: "Bei Google arbeiten keine Bösewichte." Er muss es wissen, schließlich hat er selbst dort programmiert. Und er schlägt eine Datensteuer vor, die die Sammelwut der neuen Welten-Meister ordentlich einbremsen würde.

Der vielleicht erstaunlichste Text stammt von Springer-Boss Matthias Döpfner. Ungewohnt emotional für den Vorstandschef eines Milliardenkonzerns bekennt Döpfner ein: "Ich habe Angst vor Google." Durchaus zu Recht, wenn man dem Soziologen Wolfgang Streeck glaubt: Für ihn bahnt sich eine globale Gesellschaftsordnung an, in der die NSA im Verein mit ihren privaten industriellen Helfern als "Einwohnermeldeamt der in Washington D.C. ansässigen virtuellen Weltregierung mit einem sechs Milliarden Datensätze umfassenden Weltpersonenregister" dienlich ist.

Optimistischer – und revolutionärer – gibt sich Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart. Er beruft sich auf das Traktat Von der freiwilligen Knechtschaft des französischen Humanisten Étienne de la Boétie, der dazu aufruft, den Tyrannen die Stirn zu bieten: "Wenn man ihnen nicht mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr." Eine Hauptwaffe im Kampf gegen die "Massenausforschungswaffen" müsse auch das deutsche Grundgesetz sein, das den "Raubbau an Datensätzen nicht vorsieht".

Ob sich bei der Neuordnung der Welt die gruseligen Visionen Schreeks oder die freundlicheren Steingarts durchsetzen, ist offen. Bis dahin empfiehlt sich zum tieferen Verständnis dessen, was auf dem Spiel steht, die Lektüre dieses Buches. Es ist ein imposantes Epitaph für einen großen Journalisten, dessen Talente noch gebraucht würden. (Christoph Winder, Album, 27.6.2015)